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Animationen sollen Gehörlosen zusätzliche Informationen geben – Menschliche Dolmetscherinnen können sie nicht ersetzen
Von vielen wichtigen oder wissenswerten Informationen sind Gehörlose ausgeschlossen, weil sie nur mündlich gesagt werden oder in Schriftsprache verfügbar sind und nicht in Gebärdensprache. Seit einiger Zeit werden Computer-Animationen eingesetzt, um dieses Defizit auszugleichen. Das überzeugt jedoch nicht alle.
In der Wiener U-Bahn soll es in wenigen Wochen eine Premiere geben: Bei Störungen sollen Avatare, also computergenerierte Animationsfiguren, in Gebärdensprache gehörlose Fahrgäste informieren. Die Videos sollen in der offiziellen WienMobil App wiedergegeben werden. „Dieses Pilotprojekt ist international ein wichtiger Meilenstein für barrierefreie Kommunikation im öffentlichen Raum“, sagt die Geschäftsführerin der „Wiener Linien“, Alexandra Reinagl. An dem Projekt haben sich neben dem Unternehmen Sign Time nicht nur die Technische Universität Wien, sondern auch gehörlose Menschen beteiligt – sowohl bei der Entwicklung als auch in der Testphase.
Sign Time gehört weltweit zu einer Handvoll Unternehmen, die Gebärdensprach-Avatare anbieten. Entwickelt wurde diese Technik auch mit Fördergeldern der Europäischen Union, um gehörlosen Menschen leichteren Zugang zu Informationen zu gewähren. Seit 2010 arbeitet die Wiener Firma an Avataren. Nach acht Jahren Aufbauarbeit hat das Unternehmen in den vergangenen Jahren einige Projekte umgesetzt. Die Städte Bielefeld und Heidenheim setzen zum Beispiel auf ihren Webseiten einen Avatar ein, um gehörlose Menschen zu informieren. Während auf den meisten Webseiten neutral gestaltete weibliche oder männliche Figuren gebärden, setzt das Römermuseum im westfälischen Haltern einen animierten römischen Legionär ein.
Ziel ist es, mithilfe der Avatare möglichst viele schriftliche oder gesprochene Informationen und Inhalte von Webseiten oder Apps in möglichst kurzer Zeit in Gebärdensprache zu übersetzen. Einmal programmierte Gebärden werden dann automatisch vom Computer zusammengefügt. Gehörlose kontrollieren die Animationen, berichtet Geschäftsführer Dr. Georg Tschare. Sechs seiner rund 20 Beschäftigten können selbst nicht hören.
Der Pharmahersteller Boehringer Ingelheim gehört seit Kurzem zu Tschares Kunden. Gehörlose können in untertitelten Erklärvideos zu einem Inhalationsgerät, das häufig bei Atemwegserkrankungen verschrieben wird, einen Avatar hinzuschalten, der die richtige Handhabung in Gebärdensprache erläutert. Auf dem digitalen Beipackzettel auf der Webseite können zudem Begriffe angeklickt werden, die der Avatar dann erklärt. Boehringer wolle so die Arzneimittel „ohne Hürden und leicht verständlich für gehörlose Patientinnen und Patienten zugänglich machen“, sagt Inklusionsbeauftragter Olaf Guttzeit. Er betont aber, dass der Avatar nie die Gebärdensprachdolmetscherin beim Arztbesuch ersetzen kann.
Der Avatar kann nur einseitig Informationen wiedergeben, erläutert auch Georg Tschare. Bei Vorträgen, Pressekonferenzen und Diskussionsrunden sind professionelle Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetscher nötig, und auch bei sensiblen Aufträgen wie für Webseiten von Gedenkstätten aus der Zeit des Nationalsozialismus setzt sein Unternehmen statt auf Avatare auf Menschen, die die Gebärdensprache übernehmen.
Trotz dieser klaren Abgrenzung werden die computergenerierten Figuren bis heute von Gehörlosen kritisch gesehen. Markus Meincke, der selbst nicht hören kann und als Gebärdensprachdolmetscher arbeitet, sagt: „Obwohl ich ein Technikfreak und in der Welt der Computerspiele gern unterwegs bin, überzeugen mich Gebärden-Avatare nicht.“ Die Gebärden, die sie reproduzieren, seien unnatürlich und künstlich. „Für Gebärdensprache ist die Bewegung der Hände, der Muskeltonus, die Mimik und die Körper- und Kopfhaltung essenziell. Die künstlichen Gebärden der Avatare führen oft zu Missverständnissen.“ Gerade bei sensiblen oder riskanten Themen wie einem Beipackzettel für Medikamente sei eine entsprechend korrekte Ausführung in Gebärdensprache sehr wichtig.
Unternehmer und Behindertenaktivist Ralph Raule, der selbst gehörlos ist, kritisiert: „Das, was bisher immer wieder zu sehen ist, sind Avatare, die unzureichend animiert sind, Comic-hafte Charaktere darstellen und die Frage aufwerfen, ob man die gehörlosen Bürger als Zielgruppe ernst nimmt.“ Raule ist an dem vom Bundesbildungsministerium geförderten Projekt „AVASAG“ beteiligt. Sechs Partner aus Forschung und Entwicklung unter der Leitung der Firma Charamel arbeiten an dem neuartigen 3D-Gebärdensprach-Avatar, der eines Tages automatisch und in Echtzeit übersetzen soll. Das Besondere ist die genaue zeitliche und räumliche Erfassung der komplexen Gebärden, wie Projektleiter Alexander Stricker erklärt. „Damit wird eine qualitativ hochwertige, realistische Darstellung erreicht.“ Er betont, gehörlose Menschen seien von Anfang an in führenden Positionen ins Projekt eingebunden und gestalteten die Prozesse nutzerzentriert mit.
Im Netz verbreiten sich die Avatare trotz aller Kritik massenhaft. Mehr als 230 Millionen Mal wurden animierte Gebärden von Sign Time gepostet, getwittert oder per WhatsApp verschickt. Das beliebteste GIF mit 2,8 Millionen Einsätzen ist „I love you“ (Ich liebe dich).
A. Liebmann/S. Heise
Schlagworte Gebärdensprache | Avatar | Gehörlose
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