12. Juni 2018
BEHINDERUNG

Interview: "Wir brauchen das Anderssein"

Schauspielerin Leslie Malton über Inklusion und die enge Bindung zu ihrer Schwester mit Rett-Syndrom

Als Schauspielerin Leslie Malton ein kleines Mädchen war, dachte noch niemand an Inklusion. Doch im Hause Malton war sie völlig normal. Leslies jüngere Schwester Marion kam mit einer Behinderung auf die Welt. Erst mehr als 50 Jahre später erfuhr die Familie, was eigentlich mit ihr los ist. Sie hat das Rett-Syndrom, eine seltene Erkrankung. Mit der VdK-Zeitung sprach Leslie Malton darüber, wie schwer es für Familien ist, passgenaue Betreuungsformen zu finden.

Das Foto zeigt Leslie Waltin und ihre Schwester Marion. Sie sitzen an einem Tisch, lachen zusammen. Leslie Walton hat einen Kaffeebecher vor sich stehen.
Leslie Malton (links) und ihre Schwester Marion genießen jede Minute, die sie miteinander verbringen. | © Foto: privat

VdK-Zeitung: Ihre Schwester ist elfeinhalb Monate jünger als Sie. Wie haben Sie es als Kind erlebt, dass Marion plötzlich gewisse Dinge nicht mehr konnte?

Für mich hat das keine Rolle gespielt. Marion war für mich so, wie sie eben ist, und das war normal. Ich habe von Anfang an einen besonders engen Draht zu meiner Schwester gehabt, auf sie aufgepasst, sie beschützt. Vielleicht habe ich instinktiv gespürt, dass sie meine Unterstützung braucht.

VdK-Zeitung: Wann hat Ihre Familie gemerkt, dass etwas nicht mit Marion stimmt?

Das Rett-Syndrom ist nach dem Down-Syndrom die zweithäufigste Behinderung bei Mädchen. Rund 5000 Betroffene gibt es in Deutschland. Anders als beim Down-Syndrom sieht man es den Babys nicht sofort an, dass etwas nicht stimmt. Die Kinder entwickeln sich erst normal. Meist kommt es zwischen dem 6. und 18. Monat zu einem Stillstand, und dann werden erworbene Fähigkeiten wieder verlernt.

Marion benutzte plötzlich eine Hand nicht mehr oder konnte nicht mehr mit dem Löffel essen. Das Gehirn ist bei den Rett-Mädchen aber nicht geschädigt, sondern es handelt sich um eine spontane Genmutation. Die Folge ist, dass ein Protein nicht ausreichend hergestellt wird, das ab dem Alter von etwa einem Jahr für die Weiterentwicklung des Gehirns benötigt wird.

VdK-Zeitung: Sie haben erst vor sechs Jahren erfahren, dass Ihre Schwester das Rett-Syndrom hat. Wodurch?

Ich las einen Artikel mit der Überschrift: „Wenn es nicht mehr weitergeht.“ Es ging um ein Mädchen mit Rett. Das allein sagte mir nichts, aber als ich den Text las, dachte ich: Das ist die Biografie meiner Schwester! Alles traf zu, die Waschbewegungen der Hände, die verdrehte Wirbelsäule, das Verhalten. Ich war wie im Vakuum – plötzlich gab es einen Namen für das alles. Als Botschafterin der Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom setze ich mich dafür ein, dass die Krankheit bekannter wird.

VdK-Zeitung: Das muss eine unglaublich schwere Zeit für die ganze Familie gewesen sein. Nicht zu wissen, was einem Kind fehlt.

Ich bewundere meine Eltern sehr, wie sie das alles geschafft haben. Sie haben Marion nie versteckt. Sie war immer mit uns, wurde an allem beteiligt. Deshalb liebt sie es noch heute, unter Menschen zu sein. Sie braucht die Abwechslung, verschiedene Reize von außen.

Wo lebt Ihre Schwester heute?

Nahe bei meiner Mutter, in einer Einrichtung in Kalifornien, weil das einer der wenigen US-Staaten ist, der Behinderte unterstützt. Wenn ich sie besuche, schläft sie bei mir im Bett, ich bade mit ihr, wir gehen wie früher ins Schwimmbad. Schon als Kind bin ich mit ihr auf dem Rücken durchs Becken geschwommen, habe sie geschminkt, verkleidet, sie war eine lebendige Puppe.

VdK-Zeitung: Die Bindung zu Ihrer Schwester ist sehr eng, obwohl Sie in Berlin leben. Wie erklären Sie sich das?

Das ist sehr tief in uns drin. Ich habe als Teenager zum Beispiel keine Freunde eingeladen, die Marion nicht akzeptierten. Heute sehen wir uns einmal im Jahr, und es ist immer wieder sofort da, dieses Gefühl der Nähe und Wärme. Beim letzten Mal hat Marion sogar hörbar gelacht. Das ist ganz selten beim Rett-Syndrom. Diese Menschen sprechen nicht, sie kommunizieren nur über ihre Augen. Ich habe noch nie so lebendige Augen gesehen wie bei den Rett-Mädchen. Sie werden auch „die Mädchen mit den sprechenden Augen“ genannt.

VdK-Zeitung: Was haben Sie von Marion gelernt?

Zum Beispiel genauer hinzuschauen, was hinter den Worten von Menschen steckt. Marion ist wie alle Rett-Frauen sehr direkt. Sie vermittelt pure Emotion, verstellt sich nicht. Das ist etwas sehr Besonderes. Davon können wir alle viel lernen.

VdK-Zeitung: Warum sind viele unsicher und wissen nicht, wie sie mit Menschen mit Behinderung umgehen sollen?

Weil es eben immer noch nicht selbstverständlich ist, diese Menschen so zu integrieren, dass sie ein Teil unserer Gesellschaft werden. Hinter der Unsicherheit verbirgt sich oft die Angst vor der eigenen Schwäche oder Verletzlichkeit. Deshalb brauchen wir das Anderssein. Nichts ist langweiliger als Perfektionismus.

VdK-Zeitung: Haben Sie selbst Benachteiligungen durch die Behinderung Ihrer Schwester erlebt?

Im unmittelbaren Umgang mit Menschen nicht. Und wenn es welche gegeben hat, dann haben wir sie nicht wahrgenommen, weil Marion immer mitten in unserem Leben war. Als Benachteiligung empfinde ich, wenn Menschen mit Behinderung nicht die Versorgung und Betreuung bekommen, die sie brauchen.

VdK-Zeitung: Können Sie dafür Beispiele nennen?

Kinder mit schweren Behinderungen brauchen eine spezielle medizinische Versorgung. Mit dem 18. Geburtstag bricht diese medizinische Betreuung in der Regel ab, und es droht eine Unterversorgung. Das muss sich endlich ändern. Darüber hinaus sind Menschen mit Behinderung oft nicht so untergebracht, wie sie es brauchen und wollen. Hier gibt es noch viel zu tun.

VdK-Zeitung: Wenn Sie Politik für Menschen mit Behinderung machen würden: Was käme auf Ihre Agenda?

Da gibt es so vieles. Aber wenn es darum geht, Barrieren in den Köpfen abzubauen, hätte ich einen Tipp: Jeder sollte drei soziale Tage hintereinander in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung leisten. Die Politiker natürlich eingeschlossen, denn es ist wichtig, zu spüren, worüber man redet.

Buchtipp: „Brief an meine Schwester“, Leslie Malton, Roswitha Quadflieg, Aufbau Verlag, 224 Seiten, 18,95 Euro, ISBN 978-3-351-03620-1

Hintergrund: Leslie Malton wurde am 15. November 1958 in Washington als Tochter eines amerikanischen Diplomaten geboren. Ihre Karriere begann Malton am Theater. Ihren Durchbruch hatte sie 1992 mit einer Rolle im ZDF-Vierteiler „Der große Bellheim“, für die sie 1993 mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde. Bekannt ist sie unter anderem auch aus TV-Serien wie „Tatort“, „Donna Leon“, „Wilsberg“ und „Marie Brand“. Leslie Malton ist mit dem Schauspieler und Regisseur Felix von Manteuffel verheiratet und lebt in Berlin.

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Interview: ikl

Schlagworte Schwester | Behinderung | Rett-Syndrom | Inklusion | Interview | Leslie Malton

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