13. Februar 2023
SOZIALE GERECHTIGKEIT

Tafeln erleben großen Ansturm

Rund zwei Millionen Menschen versorgen sich in Deutschland bei der Tafel mit überschüssigen Lebensmitteln

Seit in der Ukraine gekämpft wird und in Deutschland die Preise steigen, ist die Zahl der Tafel-Nutzerinnen und -Nutzer stark gestiegen. Viele sehen die wachsende Bedeutung der Tafel kritisch. Christina S. aus Berlin-Tempelhof, die seit mehr als 20 Jahren eine kleine Erwerbsminderungsrente bezieht, hilft das Angebot sehr.

Symbolfoto: Ehrenamtliche Helfer der Frankfurter Tafel sortieren von Supermaerkten gespendete Lebensmittel
© IMAGO / epd

Dienstags verwandelt sich die Kirche der evangelischen Paulus-Gemeinde in Berlin-Tempelhof zu einer großen Ausgabestelle der Berliner Tafel. Vormittags liefern Transporter im Minutentakt Spenden großer Lebensmittelketten an, die Ehrenamtliche am Hintereingang der Kirche entgegennehmen und ins Gotteshaus tragen. Dort rücken Helferinnen und Helfer Tische zurecht, auf denen die Waren später angeboten werden.

Christina S. ist eine der Kundinnen, die an diesem Dienstag kurz vor Weihnachten in der Kirche Lebensmittel abholen. Ihren Familiennamen möchte sie aus Scham nicht in der Zeitung lesen. Seit mehr als 20 Jahren lebt sie von einer kleinen Erwerbsminderungsrente. „Hier erhalte ich für einen Euro Lebensmittel im Wert von rund 20 Euro. Damit komme ich mehrere Tage aus“, sagt sie.

Die 61-Jährige kann ihren linken Arm und die Hand seit einem Schlaganfall nicht mehr bewegen. Vor ihrem Oberkörper baumeln mehrere Stoffbeutel, deren Schlaufen sie sich um den Hals gehängt hat. Mit der gesunden rechten Hand steckt sie die Lebensmittel in die jeweiligen Taschen – getrennt nach Obst, Gemüse sowie Brot und Brötchen und verpackten Waren. Am Gemüse-Stand hält sie ein Pläuschchen und bedankt sich für die Paprika. „Die kaufe ich nicht mehr im Geschäft, seitdem sie so teuer geworden sind“, sagt sie.

Schon kurz nach der Eröffnung stehen die Menschen in der Kirche Schlange. Einige haben Taschen in den Händen, andere ziehen einen Einkaufstrolley hinter sich her. Es stehen Frauen mit Kinderwagen neben Senioren, die auf ihrem Rollator sitzen und warten.

Aufnahmestopp

Wöchentlich holen sich im Schnitt 130 Haushalte in der Kirche Lebensmittel, sagt Lydia Schmuck. Die 73-Jährige sitzt am Eingang und kontrolliert die Nachweise der Eintretenden. Das Angebot kann nur nutzen, wer Arbeitslosengeld II, eine geringe Rente oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bezieht und das belegen kann. Schmuck hakt auf einer Liste die Namen derer ab, die sich bei ihr anmelden. Alle bekommen ein Zettelchen mit einer Zahl und einem Vermerk, ob Kinder im Haushalt leben. Wer aufgerufen wird, kann einkaufen. Alles läuft ruhig und geregelt.

Die Tafel Deutschland klagt seit einiger Zeit über die wachsende Zahl der Bedürftigen bei rückläufigen Spenden. Bundesweit habe jede dritte Ausgabestelle bereits einen Aufnahmestopp verhängt. In Tempelhof ist die Spendenbereitschaft weiterhin gut, sagt Schmuck. Doch auch hier werden seit Ende November keine neuen Kundinnen und Kunden mehr aufgenommen.

Kundenzahl verdoppelt

In Berlin gibt es 47 Ausgabestellen, die aktuell rund 80.000 Kundinnen und Kunden pro Monat versorgen. Im Vergleich zum Februar 2022 habe sich die Zahl verdoppelt, so die Tafel Berlin. Bundesweit gehen rund zwei Millionen Menschen zur Tafel.

Auch wenn das Angebot vielen hilft, ist die Tafel nicht unumstritten. Es sei Aufgabe des Staates, die Armut zu bekämpfen, so die Kritik. Der Armutsforscher Professor Stefan Selke ist der Meinung, dass sich mit überschüssigen Lebensmitteln, die an Bedürftige verteilt werden, nicht das Problem der Armut lösen lässt. Mittlerweile würden die Tafeln sogar Lebensmittel dazukaufen. Es habe sich eine Armutsökonomie entwickelt, von der viele profitieren, die aber das Wegwerfverhalten der Konsumgesellschaft nicht löst.

Christina S. will sich an dieser Diskussion nicht beteiligen. Sie ist froh, dass sie sich durch die Einkäufe bei der Tafel auch mal etwas erlauben kann, „was ansonsten nicht drinsitzen würde“ – zum Beispiel ein schönes Geschenk für ihren Enkel.

Jörg Ciszewski


Presse
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Die Zahl der Menschen, die die Tafeln in Deutschland aufsuchen, hat sich im Jahr 2022 verdoppelt. Was bedeutet das für die Tafeln? Jochen Brühl erzählt im Gespräch mit VdK-Präsidentin Verena Bentele. | weiter
20.01.2023

Schlagworte Tafel | Armut | Lebensmittel

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