21. Februar 2022
SOZIALE GERECHTIGKEIT

Keine Chance, aber die gut genutzt

Der Sozialmediziner Gerhard Trabert kandidierte als Bundespräsident – und verlor. Warum die Erfahrung trotzdem wichtig war, erzählt er im Interview.

© Christof Mattes

Er hatte von Beginn an keine Chance, aber die wollte er nutzen: Der Sozialmediziner Gerhard Trabert hat für die Linkspartei als Bundespräsident kandidiert. Am 13. Februar wurde der bisherige Amtsinhaber Frank-Walter Steinmeier (SPD) mit 1045 Stimmen wiedergewählt. Trabert bekam 65 Stimmen. VdK-­Präsidentin Verena Bentele sprach mit ihm direkt nach der Wahl.

Herr Trabert, sind Sie enttäuscht?
Nein. Ich hätte mir zwar mehr gewünscht, aber 29 zusätzliche Stimmen zu denen, die die Linksfraktion abgeben konnte, sind schon ein kleiner Erfolg. Am wichtigsten ist mir aber, dass Herr Steinmeier in seiner Antrittsrede sagte, dass das Thema Armut und soziale Gerechtigkei mehr in den Fokus der gesellschaftlichen Debatte gebracht werden müsste. Er sei dazu bereit und bot mir in seiner Rede eine Kooperation an. Das hat mich berührt, denn mein Ziel mit der Kandidatur war, Aufmerksamkeit für diese Themen zu bekommen.

Ist Ihnen das also gelungen?
Im Wahlkampf haben die Medien schon intensiver über die ungerechte Verteilung berichtet, also dass Alleinerziehende zu 40 Prozent von Einkommensarmut betroffen sind. Dass Frauen im Schnitt 18 Prozent weniger Gehalt bekommen für dieselbe Arbeit und dass jeder Fünfte von Einkommensarmut betroffen ist. Gelungen wäre meine Kandidatur aber erst, wenn sich für sozial benachteiligte Menschen etwas substanziell in ihrem Leben in diesem reichen Land verbessert.

Sie versorgen mit Ihrem Arztmobil Obdachlose und Menschen ohne Versicherungsschutz. Was erfahren Sie dabei über Armut?
Dass die Ursachen für Armut vielfältig sind: Arbeitslosigkeit, der Niedriglohnsektor, der fehlende soziale Wohnungsbau, die steigenden Mieten. Betroffen sind viele alleinerziehende Frauen. Es gibt strukturelle Mechanismen, die in die Armut führen.

Sie waren als Arzt in Indien, in Afghanistan. Nun sagen einige, dort gibt es Armut, aber hier in Deutschland – das sei doch keine echte Armut. Was entgegnen Sie?
Ja, das höre ich oft. Ich sage dann: Bitte nicht die Armut in Afrika mit der von hier vergleichen. Sicher, hier bekommt man zu essen, und man hat mit Glück ein Dach überm Kopf. Aber auch hier hat ein Mann, der in Einkommensarmut lebt, die mittlere Lebenserwartung eines Nordafrikaners. Wir müssen die Armut hier bekämpfen, aber die Armut findet eben auch in ­einem anderen Kontext statt als die Armut in Afrika, die wir genauso bekämpfen müssen.

Was macht Armut mit Menschen?
Sie haben das Gefühl, nicht gehört zu werden. Politiker suggerieren, dass sie selbst schuld seien. Das lässt viele resignieren. Sie leiden an Selbstwertverlust, an Depressionen. Langzeitarbeitslose haben eine 20-fach höhere Selbstmord­rate als Erwerbstätige. Wenn man das reichste mit dem ärmsten Viertel vergleicht, sterben arme Frauen 4,4 und arme Männer 8,6 Jahre früher als der Rest der Deutschen. Von einkommensarmen Männern erreichen 30 Prozent das 65. Lebensjahr nicht.

Ähnliches haben wir im letzten Jahr in einer Studie herausgefunden: Arme Rentnerinnen und Rentner leben fünf Jahre kürzer als wohlhabende. Was müsste aus Ihrer Sicht gegen Altersarmut getan werden?
Altersarmut betrifft oft Frauen, weil sie meist die Familienarbeit machen. Deshalb muss die honoriert werden. Der Mindestlohn muss so erhöht werden, dass ich, wenn ich 45 Jahre gearbeitet habe, eine Rente bekomme, von der ich auch leben kann. Dafür müsste er aber eher bei 13 als zwölf Euro liegen. Und viele Beamte, auch ich, bekommen dagegen eine hohe Pension und sind total privilegiert. Das ist ein Zwei-Klassen-System, und das gehört abgeschafft.

Was halten Sie von den Plänen der Regierung, Hartz IV zum Bürgergeld umzufunktionieren?
Das ist für mich die Bewährungsprobe der Ampel-Koalition: Ist es nur ein neues Etikett? Wenn es das nicht sein soll, muss der Regelsatz auf 650 Euro erhöht werden. Es muss aber auch an anderen Stellschrauben gedreht werden: Vom Mindestlohn bis zum Mieten-Deckel. Zu hoffen, der Markt geht von allein runter mit den Preisen, ist eine Illusion. Genauso wie die Mär, es müsse nur den Reichen gut gehen, dann sickere das bis zu den Armen durch. Die Pandemie zeigt ja: Wir sehen eine gravierende Zunahme von Reichtum auf der einen Seite und Armut auf der anderen. Wir brauchen eine andere Verteilungsgerechtigkeit.

Was verstehen Sie darunter?
Wir brauchen eine Vermögenssteuer, eine gerechtere Einkommens- und Erbschaftssteuer. Vor der Wahl war das auch bei Grünen und SPD ein Thema, nur jetzt spielt es keine Rolle mehr, weil man es mit der FDP nicht umsetzen kann. Da hätte man in den Koalitionsverhandlungen eine rote Linie ziehen müssen. Ich sehe aber auch Einsparpotenzial: etwa bei den Ausgaben für Rüstung oder bei Fehlprojekten wie der Maut. Das kann doch nicht sein, dass Millionen Euro hier einfach so verschleudert werden.

Letzte Frage: Wollen Sie in fünf Jahren erneut als Bundespräsident kandidieren?
Das kann ich wirklich nicht sagen. Also, ich muss das alles jetzt auch mal setzen lassen. Ich brauche Zeit, um über all das Erlebte und Erfahrene nachzudenken. Und dann werde ich irgendwann entscheiden, wie es weitergeht.

vo

Ein Leben im Einsatz für andere

Als Kind verbrachte Gerhard Trabert viel Zeit in einem Mainzer Waisenhaus, in dem sein Vater als Erzieher arbeitete. Das habe ihn für soziale Themen sensibilisiert, schreibt er auf seiner Website. Er studierte zunächst Sozialwesen, später Medizin. Heute ist der 65-Jährige Arzt und Professor für Sozialmedizin. Seit Jahrzehnten engagiert er sich für die Gesundheitsversorgung von Obdachlosen und Menschen ohne Versicherungsschutz. Er ist Gründer und Vorsitzender des Vereins Armut und Gesundheit in Deutschland, gehörte der Nationalen Armutskonferenz an und half bei Auslands­einsätzen, wie etwa 2016 im ­griechischen Flüchtlingslager Idomeni. Die Linke stellte den Vater von vier Kindern bei der Bundestagswahl im September als parteilosen Direktkandidaten in Mainz auf und im Februar als Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl. Das vollständige Gespräch von VdK-Präsidentin Verena Bentele mit Gerhard Trabert:

In guter Gesellschaft - Verena Bentele fragt, wo's hakt - Folge 22 – Gerhard Trabert

Wie gut funktioniert unser Sozialstaat? Gerhard Trabert, Sozialmediziner, Professor an der Rhein-Main-Hochschule und diesjähriger Kandidat als Bundespräsident, versorgt seit 25 Jahren mit seinem Verein „Armut und Gesundheit“ Wohnungslose und Menschen ohne Krankenversicherung in Mainz medizinisch. Mit Verena Bentele spricht er "In guter Gesellschaft" über die Bekämpfung von Armut, die Probleme des Gesundheitssystems und wie der Sozialstaat zukünftig finanziert werden kann.

Schlagworte Podcast | Soziale Gerechtigkeit | Armut | Chancengleichheit | Bundespräsident | Vermögenssteuer

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