23. Juni 2016
RENTE

Wie ich an einem Tag 40 Jahre älter wurde

Ein Gefühl für das Alter bekommen – Unterwegs im Alterssimulationsanzug mit VdK-Mitglied Lieselotte Kramer in Berlin

„Komm erst mal in mein Alter!“ Das sagt sich so leicht dahin. Ich (47) habe es ausprobiert und bin an einem einzigen Tag gleich um 40 Jahre gealtert. Wie das geht? Mithilfe des Alterssimulationsanzugs „Gert“ der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). So ausgestattet, bin ich mit meiner Begleiterin, der 86-jährigen Lieselotte Kramer aus Berlin, altersmäßig auf Augenhöhe.


VdK-TV: Wie fühlt sich das Alter an? - Unterwegs im Alterssimulationsanzug

Wie fühlt es sich an, mit einem Schlag 40 Jahre zu altern? Das wollten wir wissen und haben unsere Redakteurin Ines Klut in einen Alterssimulationsanzug gesteckt. Gemeinsam mit dem VdK-Mitglied Lieselotte Kramer zog sie so einen Tag lang durch Berlin und machte dabei ein paar sehr interessante Beobachtungen.


Treffpunkt S-Bahnhof Berlin-Köpenick: VdK-Mitglied Lieselotte Kramer wartet bereits am Eingang. Normalerweise hätte ich jetzt die Beine in die Hand genommen und einen kleinen Sprint eingelegt. Mit Gewichtsmanschetten um Waden, Knie, Handgelenke und Ellenbogen sowie einer 15 Kilogramm schweren Weste um den Oberkörper ist das leichter gedacht als getan. Mein Gehirn befiehlt dem Körper: Los, Beeilung! Aber der Körper will einfach nicht. Etwas schwerfällig setze ich einen Schritt vor den anderen. Zum schnelleren Laufen bin ich einfach nicht in der Lage.

Ines Klut im Alterssimulationsanzug
VdK-Zeitungsredakteurin Ines Klut wagt das Experiment und ist einen Tag lang mit einem Alterssimulationsanzug in Berlin unterwegs. | © VdK

Lieselotte Kramer kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, als ich – schwer atmend und etwas unsicher auf den Beinen – vor ihr stehen bleibe. Überrascht tastet sie nach den Gewichtsmanschetten an meinen Handgelenken und hebt wie zur Probe den eigenen Arm. „Meine Arme fühlen sich aber gar nicht schwerer an“, sagt sie und setzt lächelnd nach: „Na, ich bin ja auch langsam älter geworden.“ Ich erkläre ihr, dass die Gewichte simulieren sollen, dass im Alter Kraft, Beweglichkeit und Motorik nachlassen. Zusätzlich schränkt eine Brille das Gesichtsfeld ein, und mit den Kopfhörern sind auch die Ohren beeinträchtigt.

Dass der Simulationsanzug funktioniert, erlebe ich gleich an der nächsten Ampel. Ich bemerke erst im letzten Moment, dass ein Radfahrer ziemlich knapp an mir vorbeifährt. Die Brille verkleinert mein Gesichtsfeld, und die Halskrause erschwert mir zusätzlich den Blick über die Schulter. Ich laufe sozusagen wie im Tunnel und bin darauf angewiesen, dass sich andere Verkehrsteilnehmer rücksichtsvoll bewegen.

Lieselotte Kramer bestätigt mir, dass sie auf belebten Straßen immer sehr vorsichtig unterwegs ist. „Einen halben Blick richte ich meist nach unten, um auf Stolperstellen vorbereitet zu sein“, sagt die 86-Jährige. Das Überqueren einer viel befahrenen Kreuzung schaffen wir beide nicht, weil die Grünphase viel zu kurz ist. „Das verunsichert viele Menschen, die schlecht laufen können“, weiß Lieselotte Kramer, die allerdings noch gut zu Fuß ist. Das bestätigt sich auch auf dem Weg zur S-Bahn.

Ines Klut steht im Alterssimulationsanzug am Ticketautomaten der Deutschen Bahn
Fahrkarten am Automaten zu ziehen ist mit eingeschränktem Gesichtsfeld eine anstrengende Angelegenheit. | © VdK-TV

Anstelle des Fahrstuhls nehmen wir die Treppe. Auch hier merke ich sofort, dass ich jetzt gerade 87 Jahre alt bin. Zwei Stufen auf einmal nehmen? Unmöglich. Ich laufe Stufe für Stufe, das Geländer immer in Reichweite, sodass ich mich notfalls festhalten kann. In der Bahn bin ich froh, auf meinen Sitz fallen zu können. Das tue ich im wahrsten Sinne des Wortes, da mich die Gewichte förmlich nach unten ziehen. Beim Aufstehen muss ich mich mit den Händen abstützen, um wieder hoch zu kommen. Eigentlich wäre ich viel lieber sitzen geblieben, doch es gibt noch einiges zu erledigen.

Im Einkaufszentrum gegenüber dem Bahnhof fällt sofort auf: Hier sind viele mobilitätseingeschränkte Menschen unterwegs, ob im Rollstuhl oder mit dem Rollator. Deshalb will ich bei C&A herausfinden, ob ältere Menschen hier gut zurechtkommen. In Bekleidungsgeschäften stellen Umkleidekabinen für sie nämlich oft ein Problem dar, weil sie viel zu eng sind und manchmal auch keine Sitzgelegenheit haben. Doch ich werde positiv überrascht. Die Verkäuferin zeigt mir, wie sie mit einigen wenigen Handgriffen zwei Kabinen in eine verwandeln kann.

Auch im TUI Reisecenter in der Bölschestraße in Berlin-Friedrichshagen ist man auf die Bedürfnisse älterer Kunden bestens eingestellt. Inhaber Jan Schroeder nimmt sich viel Zeit zum Erklären und liest aus dem Katalog vor, weil ich die kleine Schrift im Prospekt schlecht sehen kann. „Ich war mal Zivi im Pflegeheim und weiß, wie wichtig es für ältere Menschen ist, jemanden zu haben, der sich kümmert“, sagt er. Lieselotte Kramer ist von dieser Einstellung begeistert, und sie nimmt sich vor: „Hier schaue ich noch mal vorbei.“

Ines Klut und Lieselotte Kramer betrachten Kataloge im Reisebüro
Die kleine Schrift in Prospekten stellt für ältere Menschen oft ein Prob­lem dar. Gut, dass es im Reisebüro freundliche Mitarbeiter gibt. | © VdK-TV

Auf dem Weg zur nächsten Station, dem Sanitätshaus MKC GmbH, spricht uns eine Passantin an. „Meine Mutter ist pflegebedürftig. Wie ist das denn nun, wenn man nicht mehr so richtig laufen kann?“, will sie von mir wissen. Ich antworte, dass alles viel anstrengender ist als sonst und ich mich auf die nächste Pause freue. Doch die muss noch warten. Zunächst will ich einen Rollator testen. „Damit man sich auskennt, falls man doch mal einen braucht“, ergänzt Lieselotte Kramer, die froh ist, noch darauf verzichten zu können. Verkäuferin Angelique Panzer erklärt die Unterschiede zwischen den einzelnen Modellen und stellt mir die richtige Größe ein. Beim Test merke ich, dass das Kassenmodell schwerer und nicht so leichtgängig ist wie die Modelle mit privater Zuzahlung. Wer wenig Geld hat, muss mit dem Kassenmodell vorliebnehmen. „Das ist schon sehr ungerecht“, sagt VdK-Mitglied Lieselotte Kramer. Sie kennt einige ältere Menschen, die mit den steigenden Kosten für Brillen, Rollatoren und Co. finanziell überfordert sind.

Ines Klut testet einen Rollator im Sanitätshaus, eine Mitarbeiterin berät sie
Welcher Rollator passt zu mir? Ein Test im Sanitätshaus. | © VdK-TV

Manchmal sind es schon die kleinen, alltäglichen Dinge, die ältere Menschen vor Herausforderungen stellen. Bei mir ist es die Wasserflasche, die ich mir auf dem Rückweg zur S-Bahn kaufe. Der Schraubverschluss ist zusätzlich mit einer Folie ummantelt. Durch die Gewichte und Handschuhe sind meine Finger steif, und ich fummle ewig rum, bis mir eine andere Kundin ihre Hilfe anbietet. Gut, dass es noch aufmerksame Mitmenschen gibt. Das wünsche ich mir auch, wenn ich tatsächlich einmal so alt werden sollte, wie mich „Gert“ gerade macht.

Nach fünf Stunden „Erlebnis Alter“ bin ich erst einmal froh, den Alterssimulationsanzug und damit meine 87 Jahre wieder abstreifen zu können wie eine zweite Haut. Das fühlt sich richtig gut an! So leicht und mühelos. Beschwingt nehme ich gleich zwei Stufen auf einmal. „Sie werden sehen, es fühlt sich in Wirklichkeit später nicht so an, wie Sie es gerade erlebt haben“, gibt mir Lieselotte Kramer zum Abschied mit auf den Weg. Ich werde mich genau wie sie langsam daran gewöhnen, alt zu werden. Und das sei ja wirklich gar nicht so schlecht, sagt sie.

Hintergrund

Der Alterssimulationsanzug „Gert“ bietet die Möglichkeit, die typischen Einschränkungen älterer Menschen auch für Jüngere erlebbar zu machen. So können diese ältere Menschen besser verstehen. Zu den altersbedingten Einschränkungen gehören:

  • Eintrübung der Augenlinse
  • Einengung des Gesichtsfeldes
  • Hochtonschwerhörigkeit
  • Einschränkung der Beweglichkeit des Kopfes
  • Gelenkversteifung
  • Kraftverlust
  • Einschränkung des Greifvermögens
  • Einschränkung des Koordinationsvermögens

ikl

Schlagworte Alter | Alterssimulationsanzug | Beweglichkeit | Simulation | Senioren

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