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Monika Stevens weiß, was es heißt, einen Menschen rund um die Uhr zu pflegen. So wie Tausende andere, die an der Pflegestudie teilnahmen, die der VdK bei der Hochschule Osnabrück in Auftrag gegeben hat.
Neulich am Frühstückstisch erzählte Monika Stevens’ Mutter plötzlich von Vierlingen. Die habe sie doch gerade erst hier in der Klinik entbunden. Wo seien die denn jetzt nur? Monika Stevens, 61 Jahre alt, einziges Kind ihrer 92-jährigen Mutter, wusste: Heute lebt die Mutter wieder in einer Parallelwelt, heute wird sie wieder besonders intensiv auf sie eingehen, sie beruhigen und ablenken müssen und den geplanten Einkauf am Nachmittag besser verschieben. Solche Tage versucht Monika Stevens mit Humor zu nehmen: „Manchmal sagt sie schon ulkige Sachen.“
Seit dreieinhalb Jahren pflegt Monika Stevens nun schon ihre demente Mutter, die in der Einliegerwohnung des gemeinsamen Hauses lebt. Morgens weckt sie die Mutter, hilft ihr beim Aufstehen, wäscht und kämmt sie, zieht sie an, macht das Frühstück, das Mittag- und das Abendessen, räumt ihre Zimmer auf, betreut sie. Ein Rund-um-die-Uhr-Job, bei dem sie nur ihr Mann Dietmar, 66, unterstützt. „Zum Glück“, sagt Stevens, sei die Mutter nicht wie andere Demenzkranke aggressiv. Starrköpfig, das schon, aber eher auf eine ruhige Art.
80 Prozent der Pflegebedürftigen in Deutschland werden so wie Monika Stevens’ Mutter zu Hause versorgt. Das sind 3,3 Millionen Menschen. Doch obwohl es so viele sind, war bislang wenig bekannt über die Nächstenpflege: Weder darüber, wer wen pflegt, noch unter welchen Bedingungen. Das ändert der VdK nun mit einer Studie, die er beim Pflegewissenschaftler Professor Andreas Büscher von der Hochschule Osnabrück in Auftrag gegeben hat. Am 9. Mai wurden die Ergebnisse zum Start der Nächstenpflege-Kampagne bei einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt. Auch Monika Stevens war dabei. Sie ist eine von 56.000 VdK-Mitgliedern, die an der Online-Befragung 2021 teilnahmen und damit die Datengrundlage für die Studie lieferten.
Vieles, was nun erstmals bezifferbar ist, trifft auch auf die Pflegesituation bei Familie Stevens zu: 72 Prozent der Pflegenden sind weiblich, mehr als die Hälfte pflegt Vater oder Mutter. Je höher der Pflegegrad ist, desto häufiger leben Pflegebedürftige und Pflegende in einem Haushalt. Monika Stevens’ Mutter hat den zweithöchsten Pflegegrad vier. Und so wie die meisten, die zu Hause pflegen oder gepflegt werden, wohnen sie in einer Kleinstadt, in Großröhrsdorf bei Dresden. Je größer die Stadt, desto seltener leben Pflegebedürftige zu Hause.
Fast alle Pflegenden (91 Prozent) gaben an, sich freiwillig für die Versorgung ihrer Nächsten entschieden zu haben. Auch für Monika Stevens ist es „selbstverständlich, dass ich mich um die Mutti kümmere“. Schließlich habe diese stets gesagt, nie in ein Heim zu wollen – so wie 98 Prozent der befragten Pflegebedürftigen. Die Nächstenpflege ist also die von fast allen bevorzugte Pflegesituation.
Dabei ist fast die Hälfte der Pflegenden selbst im Rentenalter. Monika Stevens ist zwar erst 61 Jahre alt, doch die gelernte Elektronikfacharbeiterin, die zuletzt als Kassenaufsicht bei der Metro arbeitete, ist Erwerbsunfähigkeitsrentnerin. Sie leidet seit Jahren unter chronischen Schmerzen und Depressionen. So wie 63 Prozent der Befragten hat sie täglich körperliche Beschwerden, sie muss regelmäßig zur Physiotherapie.
Die Belastung durch die Pflege tut das Übrige: Mehr als ein Drittel der Befragten (34,5 Prozent) sagt, dass die Pflege für sie nur unter Schwierigkeiten oder eigentlich gar nicht mehr zu bewältigen sei. Durchschlafen ist für 27 Prozent ein Fremdwort, weil viele Pflegebedürftige jede Nacht Hilfe brauchen. Und fast zwei Drittel können eigentlich keine Stunde alleingelassen werden (64 Prozent).
Auch Monika Stevens kann ihre Mutter nicht alleinlassen. Die Sorge, dass sie sich verletzt oder in der Wohnung etwas anstellt, ist zu groß. Nachts schlafen sie und ihr Mann nur noch mit Babyfon, seit ihre Mutter sich bei einer ihrer nächtlichen Wanderungen durch die Wohnung verletzt hat.
Als Paar können die Stevens nur dann etwas zusammen unternehmen, wenn eine Freundin oder Nachbarin auf die Mutter aufpasst. Gern würden sie diese dafür auch bezahlen, dann fühlten sie sich nicht immer wie Bittsteller. Doch den für solche Betreuungs- oder haushaltsnahe Hilfen vorgesehenen Entlastungsbetrag von 125 Euro im Monat bekämen sie von der Pflegeversicherung nur dann, wenn die Nachbarin ein Zertifikat vorlegen könnte. Dafür wiederum müsste sie einen mehrwöchigen Kurs absolvieren. Kein Wunder also, dass bei 80 Prozent der Befragten der Entlastungsbetrag monatlich verfällt.
Einen ambulanten Pflegedienst nutzen die Stevens nicht – so wie 62 Prozent der befragten Pflegehaushalte, weil die demenzkranke Mutter mit ständig wechselnden, fremden Menschen nicht klarkommt. Einmal im Jahr können sie zumindest für zwei Wochen in den Urlaub fahren, allerdings nur, wenn sie ein dreiviertel Jahr im Voraus den Kurzzeitpflegeplatz in der 30 Kilometer entfernten Pflegeeinrichtung buchen. Die Tagespflege, die Stevens’ Mutter vor der Pandemie besuchte, fordert inzwischen so hohe Zuzahlungen, dass von den monatlich 728 Euro Pflegegeld kaum noch etwas übrig bliebe. „Würde meine Mutter nur von einem Pflegedienst versorgt, bekäme der 1693 Euro.“ Als ungerecht empfindet sie das.
Die hohen Zuzahlungen sind nicht nur für Familie Stevens, sondern für mehr als die Hälfte der Befragten ein Grund, warum sie trotz Wunsch nach mehr Unterstützung diese nicht nutzen. Aber auch fehlende Angebote, etwa an Tagespflege- (49 Prozent) oder Kurzzeitpflegeplätzen (56 Prozent) sind ein Grund für die geringe Nutzung. Und jeder Fünfte gab an, vom Antragsverfahren und der Dauer des Prozedere abgeschreckt zu sein.
Für den VdK ist daher eine Reform der Pflegeleistungen dringend notwendig. „Tages-, Kurzzeit-, Verhinderungspflege und der Entlastungsbetrag müssen in einem Budget zusammengefasst werden, über den die Pflegebedürftigen und ihre Nächsten unkompliziert, eigenständig und nach ihren Bedürfnissen bestimmen dürfen“, fordert VdK-Präsidentin Verena Bentele.
Gäbe es ein solches Budget, könnte Monika Stevens ihre Nachbarin häufiger bitten, bei ihrer Mutter zu bleiben, weil sie die Betreuung dann entlohnen könnte. Auch eine Putzhilfe würde sie davon dann gern bezahlen. Eine bei der Pflegegeldkasse einzureichende Quittung, so die Vorstellung des VdK, sollte ausreichen, um das Geld ausgezahlt zu bekommen. Für Monika Stevens würde das Leben dadurch sehr viel einfacher.
Heike Vowinkel
Mehr zur Studie und alles zur großen VdK-Kampagne finden Sie unter: www.vdk-naechstenpflege.de
Schlagworte Nächstenpflege | pflegende Angehörige | Kampagne | Pflege | Demenz
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