9. November 2020

Gibt es einen guten Tod?

Beim Sterben sind alle Fragen erlaubt, sagt Prof. Dr. Claudia Bausewein

Das Bild eine Person mit einem Reisekoffer, die durch ein Tor einer Landschaft entgegenschreitet.
© unsplash.com

Prof. Dr. Claudia Bausewein leitet die Klinik für Palliativmedizin am LMU Klinikum in München-Großhadern. Die 55-Jährige engagiert sich seit 30 Jahren in der Hospizarbeit und in der palliativen Versorgung. Im Interview beantwortet sie auch heikle Fragen mit großer Gelassenheit und Empathie.

Braucht Sterben Mut?

Der Tod ist der große Unbekannte im Leben. Zu sterben, das ist für jeden Menschen das erste und einzige Mal. Das macht Angst. Doch durch die Palliativmedizin wissen wir heute viel mehr über den Sterbeprozess. Informationen für Patienten und Angehörige helfen gegen diese Angst. Trotzdem: Auch wer alles gedanklich durchdringt, ist vor Schmerz und Trauer nicht geschützt. Wir versuchen zu vermitteln, dass niemand stark sein muss, niemand muss sich „zusammenreißen“. Tatsächlich braucht Sterben auch Mut. Wir erleben manchmal, dass jemand den allerletzten Schritt scheut. Als würde er auf eine Erlaubnis warten. Dann können Angehörige den Sterbenden ermutigen und sagen: „Es ist in Ordnung, wenn du gehst.“

Welche Informationen helfen?

Der Sterbeprozess ist individuell. Früher dachte man, dass dieser in streng aufeinanderfolgenden Phasen verläuft. Doch das trifft nicht zu. Jeder Mensch geht seinen eigenen Weg. Medizinisch wissen wir heute vieles besser. Zum Beispiel über die „Rasselatmung“ am Lebensende. Das hört sich für Außenstehende an, als würde der Sterbende an Atemnot leiden und qualvoll ersticken. Dem ist aber nicht so. Weil die Flüssigkeit nicht mehr gut abtransportiert werden kann, sammelt sich einfach mehr davon in den Atemwegen. Statt den Patienten mit der Prozedur des Absaugens zu belasten, kann über eine Reduktion künstlich zugeführter Flüssigkeit oft eine Linderung erreicht werden. In diesem Zusammenhang auch diese Information: Niemand verdurstet oder verhungert am Lebensende. Tatsächlich braucht ein Sterbender nichts mehr zu essen und zu trinken, weil die Körperfunktionen komplett heruntergefahren werden. Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr würden dann den Menschen sogar sehr belasten.

Welche Bedeutung hat Zeit?

Wer Sterbende begleitet, lernt, wie wichtig und gut es ist, im Moment zu leben. Ein Sterbender und seine Angehörigen haben im wahrsten Sinne keine Zeit zu verschwenden und sollten sie gut nutzen. Viele Menschen wollen gerne alles noch regeln, bevor sie gehen. Ihre größte Sorge gilt meistens nicht sich selbst, sondern denjenigen, die zurückbleiben. Es gibt gute Tage voller Energie, auch am Lebensende. Da sagt jemand vielleicht: „Ich will meine Zukunft planen.“ Eine Reise, einen Umzug – das sind Bilder für das baldige Sterben.

Oder für Verdrängung.

Was völlig in Ordnung ist. Schließlich ist der Gedanke an den eigenen Tod nicht in jedem Augenblick gut zu ertragen. Es gibt aber Löcher und Bruchstellen in der Mauer des Verdrängens. Die suchen wir, um behutsam auf den Sterbeprozess vorzubereiten.

Stimmt das Sterben versöhnlich?

Das Bild vom guten und schönen Sterben ist erst einmal nur ein Bild. Das darf ich keinem überstülpen, nur weil es mir selbst damit besser geht. Oft kommen auch am Lebensende langjährige Konflikte hoch. Für viele Menschen ist es dann wichtig, sich noch zu versöhnen. Für manche jedoch nicht. Wenn jemand zum Beispiel bestimmte Personen nicht sehen will, akzeptieren wir das. Wir stehen als Vermittler zur Verfügung, aber wir drängen uns niemandem auf.

Darf ich lügen?

Wahrhaftigkeit ist wichtig. Tatsächlich neigen manche Angehörige zu „barmherzigen Lügen“, wie wir sie nennen. „Das wird schon wieder.“ „Iss nur ordentlich, dann wirst du gesund.“ Solche Sätze sind nicht hilfreich. Beide Seiten wissen doch, was los ist. Der Patient fühlt sich nicht ernst genommen, verstummt vielleicht, fällt in Einsamkeit und Isolation. Auch gut gemeinte Lügen verschwenden kostbare Zeit, die ich besser mit aufrichtigen Gesprächen füllen könnte.

Oft gäbe es noch viel zu sagen ...

Dann sagen Sie es! Wir wissen, dass das Gehör das letzte Sinnesorgan ist, das schwindet. Sterbende können noch alles verstehen, selbst wenn sie nicht mehr antworten. Auch wir vom Palliativteam sprechen die Patienten immer direkt an. Hinweise auf das Befinden lassen sich auch anhand des Herzschlags oder der Atmung erkennen. Vertraute Stimmen zu hören, ist enorm wichtig. Da zu sein, die Hand zu halten, etwas zu erzählen, ist das Wertvollste, was man tun kann.

Sie nennen sich selbst „Reiseführerin“. Das klingt ungewöhnlich.

Das Bild der „Lebensreise“ gibt es seit dem Mittelalter. Ich finde das eine sehr gute Beschreibung. Wir begleiten Menschen auf ihrer allerletzten Reise. Sterbende sind uns auf ihrem Weg ein Stück voraus.

Haben Sie einen schönen Beruf?

Palliativmedizin verfolgt einen sehr ganzheitlichen Ansatz. Etwas, das in der Medizin sonst leider oft zu kurz kommt. Die Begegnung mit meinen Patienten fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Ich verdanke ihnen tiefe Begegnungen. Sterbende sind wie Lehrer für mich. Meine Arbeit relativiert den Blick aufs eigene Leben. Auch wenn wir glauben, alles planen und kontrollieren zu können, macht mir mein Alltag immer wieder das Gegenteil klar. Das hilft mir selbst, öfter den Moment zu genießen und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.

Fragen: Dr. Bettina Schubarth

Schlagworte Sterben | Palliativversorgung | Trauer | Tod | Palliativmedizin | Angehörige

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