
“Therapeutisches Gammeln” für Menschen mit Demenz: Zwischen Anarchie und Geborgenheit
Die „Gammeloase“ ist eine WG für Menschen mit fortgeschrittener Demenz, die ihren Alltag frei gestalten. Gründer Dr. Stephan Kostrzewa erklärt im Gespräch mit dem VdK, warum es mehr solcher Demenzstationen braucht.

Bewohnerinnen und Bewohner bestimmen selbst
Im Juli-Kolb-Seniorenzentrum der AWO in Marl in Nordrhein-Westfalen sind im Mai 2023 Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz gemeinsam in einen Wohnbereich eingezogen – die Geburtsstunde der „Gammeloase“.
In der WG wohnen heute 14 Frauen und Männer. Dass es hier etwas anders zugeht, merkt ein Gast schon an der „Haus-Unordnung“. Sie informiert darüber, dass „mein und dein“ sowie Tischmanieren nicht so wichtig sind. Außerdem darf sich ein WG-Mitglied in das Bett eines anderen legen. Tagsüber kann ausgiebig geschlafen werden. Nicht nur Sofas und Sessel, sondern auch Fußboden oder Garten laden zum Ausruhen ein.
Überhaupt hält sich niemand an feste Zeiten. Wann gegessen wird und ob Körperpflege notwendig ist, bestimmen die Bewohnerinnen und Bewohner. Wer Süßigkeiten stibitzen möchte, darf sich jederzeit bedienen. Sogar ein Schluck Eierlikör oder Bier ist erlaubt.
Autonomie, Schutz und Sicherheit schließen sich nicht aus
Das therapeutische Gammeln klingt für Außenstehende nach Chaos, nach Anarchie. Entstanden ist das Konzept aus dem Unmut heraus, wie die Gesellschaft mit Demenzkranken umgeht, sagt Stephan Kostrzewa. „Ich habe in den 1980er-Jahren meine Altenpflegeausbildung gemacht. Schon damals hieß es, Menschen mit Demenz brauchen Struktur.“
Doch kaum jemand habe das System hinterfragt. Dass es auch anders geht, hat der Sozialwissenschaftler schließlich in der Hospizarbeit erlebt. „Auf der Palliativstation war die Autonomie des Sterbenden das höchste Gut. Diese Haltung wollte ich auf den Umgang mit Menschen mit Demenz übertragen“
, erklärt er.
Wie sich Menschen mit Demenz wirklich fühlen, damit würden sich in der Branche zu wenige beschäftigen. „Demenzkranke sind ängstlich und zutiefst verunsichert und wollen weder in die frohe Runde mit orientierten Menschen noch ins Gedächtnistraining“
, kritisiert der Gründer der „Gammeloase“
. Sie bräuchten vor allem Schutz und Sicherheit. „Das bietet ihnen die Gammeloase“
, ist er überzeugt.
Viel unnötiges Leid in typischen Einrichtungen
In herkömmlichen Einrichtungen entsteht viel unnötiges Leid, beklagt der Experte. So werden Verhalten wie Schreien, Umherirren und Weglaufen bei Demenzkranken hauptsächlich mit Neuroleptika und Psychopharmaka behandelt. Doch dahinter können andere Ursachen stecken, etwa Schmerzen. „Die Erfahrung zeigt: Je dementer ein Mensch ist, desto weniger Schmerzmittel werden ihm verabreicht.“
Er berichtet von einer dementen Frau, die aufgrund ihres aggressiven Verhaltens aus zwei Pflegeheimen ausziehen musste. In enger Zusammenarbeit mit Neurologen und Gerontopsychiatern wurden Schmerzmittel hochgefahren, Neuroleptika dagegen heruntergefahren. „Das hat gut funktioniert. Jetzt ist die Dame zu allen freundlich.“
Es fällt dann auch Angehörigen positiv auf, wie lebhaft ihr Familienmitglied in der Gammeloase auf einmal ist.
Das freut Kostrzewa umso mehr, weil er um die Sorgen der Angehörigen weiß. „Sie fühlen sich alleingelassen und gehen psychisch und physisch am Stock. In ihnen wohnen nicht gelebte Trauer, Wut und Verzweiflung.“
Er fordert daher mehr Angebote, die auf die Angehörigen zugehen.
Kostrzewa hält nicht viel von Biografiearbeit. Wie der Mensch vor 30 Jahren war, sei nicht mehr so bedeutsam. Frühere Vorlieben gehen ohnehin verloren. „Wir sollten stattdessen sensibel dafür sein, was ihm jetzt guttut. Beispielsweise weiß mein Sohn, dass ich Milchsuppe nicht leiden kann. Doch wenn ich später einmal an Demenz erkranken und auf einen solchen Teller schielen sollte, dann wünsche ich mir, dass er ihn mir anbietet.“
TV-Tipp
Eine Reportage des WDR aus der Reihe „Menschen hautnah“ gibt einen berührenden Einblick in die „Gammeloase“. Der Film ist bis 31. Dezember 2025 verfügbar:
Externer Link:„Menschen hautnah: Dement, renitent und heiß geliebt“