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Andrea Weidner ist 26 Jahre alt und hat sich zur Sterbebegleiterin ausbilden lassen. Die meisten Sterbebegleiter sind zwischen 50 und 70 Jahre alt. Was bewegt also junge Menschen, andere in den Tod zu begleiten?
Was in einem Sterbenden vorgehen mag, erlebte Andrea Weidner an Halloween vor einem Jahr. Sie lag auf dem Boden, konzentrierte sich darauf, dass es bald vorbei sein würde, dass sie nie wieder mit ihrem Freund tanzen gehen, nie wieder Menschen in den Straßen beobachten würde. Sie hörte, wie die Krankenschwestern über ihren Alltag jammerten und spürte plötzlich: Neid. Auf alles, was die beiden da beklagten: Was gäbe ich darum, deren Probleme zu haben.
„Es war eine der intensivsten Erfahrungen in der Ausbildung als Sterbebegleiterin“, sagt Andrea Weidner. Die „Krankenschwestern“ waren ihre Übungsleiterinnen, sie und die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kurses hatten die Aufgabe, sich in einen Sterbenden hineinzudenken, der im Krankenhaus liegt. Eine Art Simulation. Weidner ließ sich 2020 ein halbes Jahr lang vom Lazarus-Hospiz in Berlin zur ehrenamtlichen Sterbebegleiterin ausbilden.
Seitdem ist sie Teil einer Bewegung, in der sich 120 000 Menschen bundesweit haupt- und ehrenamtlich engagieren: Todkranke in der letzten Phase des Lebens zu begleiten und damit auch ihre Angehörigen zu entlasten. Die Ehrenamtlichen sind meist Frauen zwischen 50 und 70 Jahren. Wie viele unter 30 sind, darüber gibt es keine Zahlen. Andrea Weidner ist 26 und somit eher die Ausnahme. Warum also ließ sie sich zur Sterbebegleiterin ausbilden?
„Es gibt nicht den einen Grund, eher mehrere“, sagt Weidner. Sie sitzt in einem Kreuzberger Café, die Herbstsonne scheint ihr ins müde Gesicht. Gerade ist sie aus der Brennpunktschule gekommen, an der sie für zwei Jahre als Teach First Fellow arbeitet, eine Art Klassenbegleiterin, die Kinder und Jugendliche bei Problemen mit der Schule und dem Leben unterstützt. „Vor allem ist es Neugier auf alles, was mit dem Leben zu tun hat“, sagt Weidner, die Anthropologie und Philosophie studiert hat.
Dass sie sich beruflich mit Kindern und dem Anfang des Lebens beschäftigt, ehrenamtlich aber mit dem Tod, sei die perfekte Ergänzung. Aber auch ein Auflehnen gegen die Ich-Zentrierung unserer Zeit, das Leistungsdenken: „Nur wer produktiv ist, gilt als wertvoll. Wer hat das tollste Leben, zeigt es in den schönsten Fotos? Wer arbeitet am meisten? Davon sind wir alle so sehr geprägt. Dabei hat jeder auch ohne all das einen Wert.“
Andrea Weidner glaubt nicht, dass junge Menschen sich weniger als alte mit dem Tod beschäftigen. Eher im Gegenteil. „Meine Generation verdrängt viel weniger als die ältere. Der Tod oder psychische Probleme werden nicht tabuisiert.“ In der Ausbildung zur Sterbebegleiterin habe sie gelernt, wie wichtig es ist, Gefühle wie Angst, Trauer, Wut zuzulassen. „Unser erster Impuls ist ja immer zu trösten: Guck doch auf das Positive, was du noch hast. Aushalten, dass etwas schlimm ist, hilf- und sprachlos macht, ist viel schwerer.“
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Ihr erster Einsatz in diesem Frühjahr war allerdings etwas ernüchternd. „Ich hatte die überhöhte Vorstellung, dass Sterbende aus ihrem Leben erzählen, über Unaufgearbeitetes, dass man vielleicht helfen kann.“ Stattdessen saß sie am Bett einer Demenzkranken, die kaum noch sprach. Die Frau lag im Lazarus-Hospiz und Weidner vertrat die Tochter für mehrere Stunden am Sterbebett.
Sie las ihr vor, befeuchtete ihre Lippen, wie sie es im Kurs gelernt hatte, nahm ihre Hand, ein Angebot von Nähe, und hatte sogleich das Gefühl, dass die Frau sich damit nicht wohlfühlte. „Ich nahm die Hand zurück. Das war das Schwerste: zur eigenen Unsicherheit stehen, sie sogar ansprechen.“ Doch es schuf Vertrauen. Das Schweigen, die Stille erlebte sie als etwas Meditatives. Trat sie danach vor die Tür, reagierten ihre Sinne wie feinjustierte Sensoren. Doch sie fragte sich manches Mal: Macht es einen Unterschied, ob ich da bin oder nicht? Heute ist sie überzeugt: Es macht einen Unterschied. „Vor allem, wenn man authentisch ist und sich nicht verstellt.“ Als die Frau starb, war nicht sie, sondern die Tochter dabei. Die allerletzten Stunden mitzuerleben, sei eine besondere Herausforderung, vor der Weidner auch Respekt hat. Aber sie will sich ihr stellen.
Die Sicht auf ihren eigenen Tod hat sich durch den Kurs und ihren ersten Einsatz verändert. „Früher dachte ich wie die meisten: Ein schneller Tod ist das beste. Heute weiß ich: Sterben ist ein Prozess und den würde ich gern bewusst erleben, ihn gestalten, mich verabschieden.“
Einmal sollten sie im Kurs einen Nachruf auf sich selbst schreiben. Erst dachte sie: „Das kann ich nicht.“ Dann begann sie und merkte, das tolle Abitur, ihre Erfolge, all das hatte darin keinen Platz. Am Ende schrieb sie ein Zitat des Dichters Rainer Maria Rilke: „Eine Weile hingerissen das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.“ Und fügte hinzu: „In ihren besten Momenten, tat sie genau das.“
Heike Vowinkel
Schlagworte Begleitung Sterbender | Sterben
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