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Darüber, wie Corona das Leben in Pflegeheimen verändert hat, wurde viel berichtet. Doch wie erging es den 3,1 Millionen Frauen und Männern, die zu Hause von Angehörigen versorgt werden – von Menschen wie Edeltraud Geister?
Im ersten Lockdown dachte sie noch: „Das wird schon.“ Sicher, die Lewy-Body-Demenz ihres Mannes, eine besonders schwere Form der Demenz, war längst im Alltag angekommen. Er vergaß Absprachen, orientierte sich immer schlecher, verlor seinen Humor, hatte Halluzinationen. Irgendwie, glaubte Edeltraud Geister, würde es schon gehen. Schließlich war die 67-Jährige aus Biberach, die bis vor Kurzem noch als Laborassistentin in Altersteilzeit gearbeitet hatte, nun in Rente. Doch dann, abgeschottet von jedem Außenkontakt, beschnitten um Rituale wie den täglichen Zeitungskauf, die Spaziergänge, verschlechterte sich sein Zustand rasend schnell. Peter Geister schlief kaum noch, vergaß immer mehr. „Die Ungewissheit und Isolation haben uns fertiggemacht“, sagt Edeltraud Geister heute.
In Deutschland sind 4,1 Millionen Menschen auf Pflege und Hilfe angewiesen. 80 Prozent von ihnen werden wie Peter Geister zu Hause versorgt. Sie wollen nicht in ein Pflegeheim, nicht ihr Zuhause, die vertrauten Menschen verlassen. Auch ihre Angehörigen wollen das nicht – 2,1 Millionen Menschen werden ausschließlich von ihnen gepflegt. Trotz dieser großen Zahl ist wenig bekannt über ihr Leben, ihren Alltag. Die Situation in der häuslichen Pflege ist die große Leerstelle des Pflegesystems.
Das war auch in der Hochphase der Corona-Pandemie nicht anders. Viel wurde über die oft schlimmen Zustände in Pflegeheimen berichtet, über verzweifelte, eingesperrte Bewohnerinnen und Bewohner und protestierende ausgesperrte Angehörige. Um mehr über die Situation in der häuslichen Pflege zu erfahren, hat der VdK die Hochschule Osnabrück beauftragt, diese in einer großen Studie zu untersuchen. Jetzt wurde vorab jener Teil vorgestellt, der die Corona-Zeit beleuchtet. 16 000 VdK-Mitglieder – Pflegende und Gepflegte – beantworteten hierfür die Fragen der Forscher. Auch Edeltraud Geister.
Angst war das beherrschende Gefühl der Menschen, die zu Hause gepflegt werden und pflegen. 76 Prozent der Teilnehmenden fürchteten, an Corona zu erkranken und an Spätfolgen zu leiden.
Edeltraud Geister wurde panisch, wenn ihr zwölf Jahre älterer Mann mal wieder ausriss, allein nicht zurückfand, ohne Maske Bus fuhr. Ein täglicher Kampf begann. Die allgemeine Angst vor dem Virus löste bei Peter Geister lange verschüttete Ängste aus der Kriegszeit aus, Sorgen aus seiner Zeit als Elektromechaniker- Meister kamen hoch. Die Isolation tat ihr Übriges. Es gab keine Besuche mehr, Einkäufe erledigten die erwachsenen Töchter, stellten sie vor die Tür. Sogar die Haushaltshilfe, die zwei Schulkinder hat, bestellte Edeltraud Geister ab – aus Sorge, die Frau könne sie selbst oder ihren Mann mit dem Virus anstecken.
81 Prozent der befragten Pflegebedürftigen ging es ähnlich: Sie mieden den Kontakt zu Dritten. Angehörige waren sogar noch vorsichtiger: 87 Prozent von ihnen versuchten, anderen aus dem Weg zu gehen. Mehr als zwei Drittel fürchteten, dass sich ihre Situation durch Corona verschlechtere, etwa weil die Hauptpflegeperson oder weitere Helfende sich infizieren und erkranken könnten. Fast ein Drittel der Pflegebedürftigen verließ das Haus nicht mehr. Auch 37 Prozent der pflegenden Angehörigen haben die Wohnung kaum noch verlassen. Das Zuhause wurde zur Isolationsstation.
Edeltraud Geister ist überzeugt, dass die Demenz ihres Mannes erst durch die Isolation so rasant voranschritt. Physio- und Ergotherapien fielen aus, geliebte Gewohnheiten wie Einkaufen gehen waren nicht mehr möglich. Doch auch sie wurde psychisch krank, merkte anfangs nicht, wie sie in eine Depression hineinrutschte. Sie ließ den Akkordeon-Unterricht ausfallen, gab keine Sportstunden mehr. 24 Stunden am Tag verbrachte sie mit ihrem Mann, der nichts mehr ohne sie tun konnte.
Im Spätsommer 2020 atmete sie kurz auf, als sie für ihren Mann für wenige Stunden an zwei Tagen pro Woche einen Tagespflegeplatz fand. Doch schon zwei Monate später, der zweite Lockdown begann, schloss die Einrichtung.
Die Pandemie-Zeit war belastend, das sagten auch 78 Prozent der pflegebedürftigen Befragten und 84 Prozent der Angehörigen. Die psychische Belastung wog für mehr als 70 Prozent schwer. Entlastungsmöglichkeiten wie Tagespflege oder Demenz-Cafés entfielen plötzlich. 37 Prozent der Pflegehaushalte nutzten keine Hilfsangebote mehr, meist, weil diese geschlossen wurden.
Edeltraud Geisters Kräfte schwanden. Irgendwann ging nichts mehr, sie musste in einer Schmerzklinik behandelt werden. Ihr Mann kam in dieser Zeit in eine Reha, doch dort verschlechterte sich sein Zustand weiter. Wieder zu Hause, merkte sie rasch, dass es so nicht weitergehen konnte. Es fiel ihr nicht leicht, aber sie suchte einen stationären Demenzpflegeplatz für ihren Mann. Dort besucht sie ihn, so oft sie kann.
Von ihren Erfahrungen in der Corona-Zeit erzählte Edeltraud Geister Ende August auf einer Pressekonferenz des VdK in Berlin, bei der die Ergebnisse der Studie zur häuslichen Pflege in der Pandemie vorgestellt wurden. Ihrem Mann war nur schwer zu erklären, dass sie ihn zwei Tage nicht besuchen könne. Als sie aber sagte, dass sie zum VdK fahre, nickte er nur und sagte: „Dann ist’s gut.“ Peter Geister ist seit vielen Jahren VdK-Mitglied. Etwas, das er nie vergessen hat.
Heike Vowinkel
Schlagworte Pflegebedürftige | pflegende Angehörige | Pflegestudie | Corona
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