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Viele Kinder und Jugendliche leiden noch immer an den Folgen der Corona-Pandemie. Über ihre psychische Belastung spricht Dr. Gunter Joas mit dem VdK. Er ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Esslingen.
Schon vor der Pandemie gab es eine hohe Inanspruchnahme der Kinder- und Jugendpsychiatrie und zu wenig Behandlungsplätze für Heranwachsende, die unsere Hilfe gebraucht haben. Diese Situation hat sich weiter verschärft. Wir erleben eine deutliche Zunahme an Angststörungen, Depressionen und Essstörungen. Darüber hinaus erschreckt mich die hohe Zahl an Kindern, die nicht mehr leben wollen. Diese Kinder und Jugendlichen mit Selbstmordgedanken werden immer jünger.
Dr. Gunter Joas: Es gibt nicht nur den einen Grund. Nach Corona sind bei vielen Kindern und Jugendlichen die psychischen Abwehrkräfte einfach aufgebraucht. Ihr Tank ist leer. Während der Pandemie sind viele Unterstützungsangebote, soziale Kontakte, auch die Schule – als wichtiger Ort der Begegnung – weggefallen. Klassenfahrten, Jugendfreizeiten, gemeinsam feiern oder einfach nur mit Gleichaltrigen abhängen – alles, was für Jugendliche in ihrer Entwicklung sehr wichtig ist, war nicht mehr möglich.
Vieles ist noch nicht aufgearbeitet. Nun wird von den Kindern und Jugendlichen aber erwartet, dass sie wieder so funktionieren wie zuvor, als wäre nichts gewesen. Wir wissen, dass psychische Probleme nach einer Ausnahmesituation wie Corona oft erst mit einer zeitlichen Verzögerung durchschlagen. So zeigen viele junge Menschen nun auch ein schulvermeidendes Verhalten. Hinzu kommen die Sorgen wegen des Ukraine-Kriegs und des Klimawandels.
Joas: Auch hier gibt es keine einfache Antwort. Studien zeigen, dass Kinder und Jugendliche aus Familien mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status ein höheres Risiko für die Ausbildung einer psychischen Störung haben. In der Pandemiezeit sind insbesondere Alleinerziehende oftmals an ihre äußerste Belastungsgrenze gelangt. Dies ist sicher ein wichtiger Aspekt, den die Politik als erschwerenden Faktor im Blick haben muss. Wir sehen aber Kinder und Jugendliche aus allen Schichten und Lebenssituationen. So tun sich insbesondere auch Kinder schwer, die alles richtig machen wollen oder die eine stärkere Feinfühligkeit mitbringen.
Joas: Zunächst brauchen sie Verständnis. Man sollte mehr mit ihnen sprechen und nicht dauernd über sie. Viele Erwachsene scheinen schon vergessen zu haben, wie schwierig die Zeit für die Kinder und Jugendlichen etwa mit dem Homeschooling gewesen ist. Im Grunde sind sie die Helden der Pandemie.
Was sie brauchen, ist Stabilität, soziale Kontakte, Verständnis, Liebe und Hilfe, wenn die persönliche Situation zu belastend wird. Dass die Schließung der Schulen keinen positiven Effekt hatte, wissen wir, und die Politik hat betont, dass diese Maßnahme nicht mehr ergriffen werden soll. Dies begrüße ich außerordentlich. Schule darf nicht nur allein auf Lernen reduziert werden. Schule ist ein wichtiger Ort für die Heranreifung der Schülerinnen und Schüler.
Joas: Eltern sollten auf Veränderungen im Verhalten ihrer Kinder achten. Nicht jeder Streit oder Konflikt ist ein Alarmzeichen. Wenn sich Kinder aber zurückziehen, sich nicht mehr mitteilen, soziale Kontakte abbrechen oder stark einschränken, könnte dies ein Signal für Eltern sein, genauer hinzuschauen. Wichtig ist, den Kindern zuzuhören und sich Zeit zu nehmen. Das Abweichen und die Veränderung des bisherigen Verhaltens kann ein Anlass dafür sein. Familien sollten sich lieber früher als zu spät an Hilfsangebote vor Ort wenden. In einem ersten Gespräch kann rasch abgestimmt werden, was und ob eine weitergehende Hilfe notwendig ist. Je länger die Erkrankung besteht, desto länger ist der Heilungsprozess. Wir müssen alle zusammen drohende chronische Verläufe bei den Kindern und Jugendlichen verhindern.
Den Fokus auf Kinder und Jugendliche zu legen und deren besonderen Unterstützungsbedarf aufzugreifen, begrüße ich. Auch die finanzielle Unterstützung im Bereich der Prävention und der Hilfsangebote ist wichtig. Den bedarfsgerechten Ausbau von klinischen Behandlungsplätzen sehe ich weiter als drängende Aufgabe der Politik.
Darüber hinaus ist der Ausbau von flexiblen Behandlungsmöglichkeiten, etwa Stationsäquivalente Behandlung – StäB, die Schaffung von niedrigschwelligen Zugängen und eine sektorenübergreifende Versorgung unter Einbezug von Kinderärztinnen und -ärzten, Schulen, Beratungsstellen und anderen dringend notwendig. Jede Schule sollte über eine ausreichende Anzahl von Schulpsychologen und Schulsozialarbeiterinnen verfügen.
Interview: Kristin Enge
Die interministerielle Arbeitsgruppe (IMA) „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“, die die Bundesregierung eingesetzt hat, kam zu dem Ergebnis, dass sich 73 Prozent der Kinder und Jugendlichen noch immer psychisch stark belastet fühlen.
Am 8. Februar 2023 hat die IMA ihren Abschlussbericht vorgelegt, den das Kabinett beschlossen hat. Sie hat konkrete Handlungsempfehlungen erarbeitet, die sich an Schulen, die Kindertagesbetreuung, Kinderärztinnen und -ärzte sowie die Jugend- und Familienhilfe richten. Die IMA wurde von zahlreichen Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und den Ländern unterstützt.
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Schlagworte Corona | Pandemie | Kinder | Jugendliche
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