Plattenbauten: Die Letzten ihrer Art
Ein großer Teil der DDR-Bevölkerung lebte in Plattenbausiedlungen. In der Zeit nach der Wende geriet das Wohnen dort in Verruf. Heute interessiert sich der Denkmalschutz für die Bauten.
Im Frühjahr 1992 bezogen Annette und Thomas W. (Name ist der Redaktion bekannt) eine Wohnung im Plattenbau in Halle-Neustadt: drei Zimmer, Küche mit Durchreiche, Bad. 55 Quadratmeter für rund 425 D-Mark warm. „Wir wollten eigentlich in der Altstadt von Halle wohnen. Aber das, was wir dort hätten mieten können, war Anfang der 1990er-Jahre fast alles abbruchreif“, erzählt die 55-Jährige. „Halle-Neustadt war für uns die einzige Möglichkeit, eine bewohnbare Wohnung zu bekommen.“
Sie tapezierten die Wände, verlegten neuen Teppich und richteten sich ein. Später fliesten sie das Bad. Bald kam ihr erstes Kind zur Welt, zwei Jahre darauf das zweite.
Am Reißbrett entworfen
Halle-Neustadt wurde – wie zuvor Eisenhüttenstadt und Hoyerswerda – als Planstadt am Reißbrett entworfen. Bis zu 100.000 Menschen, die vor allem in den Chemiebetrieben der Region beschäftigt waren, sollten hier wohnen. „Das ist eine Besonderheit“
, sagt Toni Pfaff. Er ist im Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt in Halle (Saale) für das „Projekt Ostmoderne“ zuständig und beschäftigt sich mit dem Denkmalschutz von Plattenbauten.
Plattenbau ist Wohnungsbau in industrieller Fertigung. Ziel war es, innerhalb kurzer Zeit möglichst viel günstigen Wohnraum zu schaffen. „Deshalb arbeitete man auch mit Typisierung, also mit vorgefertigten Entwürfen für ganze Gebäude, die als sogenannte Typenbauten immer wieder zum Einsatz kamen“
, erklärt Pfaff. Die Platten wurden in den Fabriken vorgefertigt und auf den Baustellen vor Ort einfach zusammengesetzt.
Fugen als gestalterisches Element
Die typischen Fugen zwischen den einzelnen Betonplatten wurden bewusst genutzt, so Pfaff. Sie galten als gestalterisches Element, das die Fassaden gliederte. Zudem sollten sie die Fortschrittlichkeit des Bauens zeigen. „Die DDR war stolz auf ihre Bauweise“
, sagt Pfaff.
Trotz Typisierung und Vorfertigung wurde aber auch experimentiert. Es entstanden Plattenbauten mit besonderen Grundrissen, mit Dachterrassen oder Maisonettewohnungen.
Laut Statistischem Bundesamt wurden zwischen 1970 und 1990 in der DDR rund 1,9 Millionen Wohnungen neu gebaut, darunter viele in Plattenbauweise. Diese waren begehrt und oft nicht leicht zu haben. Im Jahr 1990 sollen dann jede dritte DDR-Bürgerin und jeder dritte DDR-Bürger in einer Plattenbauwohnung gelebt haben.
Bildergalerie: Zeitzeugen der DDR-Alltagskultur
Hoher Komfort, bessere Ausstattung
Mit fließendem warmen Wasser, einem Innen-WC und Zentralheizung waren sie im Vergleich zum unsanierten Altbau besser ausgestattet und boten größeren Komfort. Das empfand auch Annette W. so. „Gerade mit unseren kleinen Söhnen war es viel bequemer, und wir wussten das zu schätzen.
“
Zudem sei es grün gewesen, nicht so dicht bebaut, erzählt sie. Hinter dem Haus waren ein Spiel- und ein Wäscheplatz angelegt. Supermarkt, Schwimmhalle und sogar ein Kino lagen in der Nähe. Zum Kindergarten und zur Bushaltestelle waren sie nur wenige Minuten zu Fuß unterwegs. Annette W. fuhr mit dem Bus beziehungsweise mit der Straßenbahn zur Arbeit, manchmal mit dem Auto, das direkt vor der Haustür parkte. Ihr Mann radelte zur Universität. „Für uns als junge Familie war diese Wohnung das Beste, was uns passieren konnte“
, sagt sie rückblickend.
Die Infrastruktur spielte bei der Planung von Plattenbausiedlungen eine wichtige Rolle. „Es gab Komplexrichtlinien, in denen genau festgelegt war, wie viele Minuten es etwa bis zum Kindergarten oder zur Schule dauern sollte. Versorgungseinrichtungen sollten fußläufig erreichbar sein“
, erklärt Pfaff. Der Verkehr wurde um die Wohngebiete herumgeleitet.
Ende 1996 zogen Annette W. und ihre Familie aus beruflichen Gründen weg aus Halle-Neustadt. Wie auch viele andere, die den Plattenbausiedlungen nach der Wende den Rücken kehrten. Gebäude wurden seitdem saniert, andere abgerissen. Der Zehngeschosser, in dem Annette W. vier Jahre lang mit ihrer Familie gelebt hat, steht nicht mehr.
Plattenbauten als Zeitzeugen
In den vergangenen Jahren ist das öffentliche Interesse an den Plattenbauten wieder gewachsen, und der Denkmalschutz hat sie für sich entdeckt. „Wir fragen, welche Bauwerke über die Zeit, in der sie entstanden sind, Zeugnis ablegen können. Deshalb betrachten wir grundsätzlich auch Plattenbauten als Zeitzeugen“
, erklärt Pfaff.
Für den Hallenser Denkmalschützer fallen in Halle-Neustadt die seltenen Laubenganghäuser, die mit Meißner Kacheln verkleidet sind, in diese Kategorie. Sie wurden 2023 unter Schutz gestellt.
Plattenbauten unter Denkmalschutz
Das Terrassenhaus in Rostock Evershagen steht seit fünf Jahren unter Denkmalschutz. Der Rostocker Architekt Peter Baumbach hat es im Jahr 1969 ursprünglich als Studie entworfen: Er plante den Wohnkomplex für fast 4000 Menschen wie eine Stadt, mit begrünten Dachgärten, Kindergarten, Waschsalons, Restaurants, Gesundheitsstützpunkt, Sauna und Bibliothek. „Das war damals auf der Höhe der Zeit der internationalen Architektur“
, sagt Peter Writschan, Stadtkonservator in Rostock.
Realisiert wurde im Jahr 1977 eine einfachere Version mit auffälligen treppenförmigen Terrassen an der Südseite und Spaltklinkern an der Fassade, die die typische Rostocker Backsteingotik in moderner Form aufgreifen. Die Wohnungen waren schon damals beliebt und sind es heute noch.
Auch andere Städte haben Plattenbauten unter Denkmalschutz gestellt. Darunter sind Gera, Dessau, Dresden, Neubrandenburg oder Bernau bei Berlin.
In Dessau haben sich Bürgerinnen und Bürger dafür eingesetzt, sodass im Jahr 2014 die sogenannten „Y-Häuser“ unter Denkmalschutz gestellt wurden. Entworfen hat die Gebäude mit dem ungewöhnlichen ypsilonförmigen Grundriss der Architekt Wulf Brandstädter, der laut Pfaff lange als Stadtarchitekt in Halle tätig war und viele bemerkenswerte Entwürfe geschaffen hat.
Heute verwalten oft kommunale Genossenschaften die Wohnungen. In Halle-Neustadt sind vor allem Familien, ältere Menschen oder Menschen mit Migrationshintergrund die Mieter, sagt Pfaff.
Allerdings sind von den letzten baulichen Zeitzeugen der DDR-Alltagskultur nur noch wenige im Originalzustand erhalten. Bei den Denkmalen muss man nun zwischen Nutzung und Denkmalschutz abwägen. „Doch Kompromisse finden sich immer“
, zeigt sich Pfaff optimistisch.