Kategorie VdK-Zeitung Teilhabe

Bei Anruf Kultur: Kunst übers Telefon direkt ins Wohnzimmer

Von: Kristin Enge

Kostenlose Führungen per Telefon durch Museen, Städte, Gärten oder Kirchen – das ermöglicht „Bei Anruf Kultur“. Initiiert wurde das Projekt vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg. Heute ist es ein bundesweites Angebot. 

Stefanie Reimers steht in der Ausstellungshalle, betrachtet ein großformatiges Bild und spricht ins Telefon.
Kulturvermittlerin Stefanie Reimers führt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die per Telefon zugeschaltet sind, durch die Ausstellung "Wunderbild" von Katharina Grosse. © Klaus Lange / VdK

Eine sympathische Stimme meldet sich am Telefon. „Herzlich willkommen zu unserer Telefonführung durch die Deichtorhallen in Hamburg. Ich bin heute als Moderatorin zugeschaltet. Wir sind 25 Teilnehmer. Die Führung ist ausgebucht.“

Eine der Teilnehmerinnen ist Ingrid J. (Name ist der Redaktion bekannt). Die 85-Jährige hat es sich zu Hause in Hannover in ihrem Sessel bequem gemacht. Sie will sich am Telefon durch die Ausstellung „Wunderbild“ in den Deichtorhallen führen lassen. Ingrid J. kann nicht mehr gut sehen und ist gespannt, was sie erwartet.

Dann meldet sich Kulturvermittlerin Stefanie Reimers am Telefon zu Wort: „In den Deichtorhallen ist gerade ein besonderes Werk zu sehen – das ‚Wunderbild‘ von Katharina Grosse.“ Sie spricht von einer „malerischen Installation“ und beschreibt, wie auf beiden Seiten der ehemaligen Markthalle Stoffbahnen von der Decke hängen, die 20 Meter hoch und 60 Meter breit sind. „Es dauert ungefähr eineinhalb Minuten, um daran vorbeizulaufen“, sagt Reimers. Sie will den Kunstinteressierten am Telefon einen Eindruck von der Größe des Werkes vermitteln.

Die Telefonführung ist Teil des Angebots „Bei Anruf Kultur“. Es wurde im Jahr 2021 vom Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH) und Grauwert, Büro für demografiefeste Lösungen, entwickelt. Es bringt Kunst und Kultur zu den Menschen nach Hause, die entsprechende Angebote aus verschiedenen Gründen nicht nutzen können. Es sind Menschen, die eine Seh- oder Hörbehinderung haben, in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, wegen psychischer Einschränkungen das Haus nicht verlassen oder sich den Besuch nicht leisten können.

Melanie Wölwer, die das Projekt leitet, weiß, dass 71 Prozent derjenigen, die „Bei Anruf Kultur“ nutzen, eine Beeinträchtigung oder Behinderung haben. Seit das Projekt gestartet wurde, hätten sie viele „herzerwärmende Rückmeldungen“ erreicht, erzählt sie. 94 Prozent aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer würden sich sogar dreimal im Monat für eine Führung anmelden. 

Gestartet ist das Projekt mit fünf Führungen, die in der Corona-Pandemie für Menschen mit Sehbehinderung konzipiert wurden. „Es ist ein klassisches Corona-Kind“, sagt Wölwer. Heute beteiligen sich 111 Museen aus dem ganzen Bundesgebiet. Im Programm stehen etwa die Staatsgalerie in Stuttgart, die Bundeskunsthalle Bonn, das Museum Barberini in Potsdam und Goethes Gartenhaus in Weimar. Es werden auch Stadt-, Garten und Kirchenführungen organisiert. Das Spektrum reicht von Kunst über Geschichte bis hin zur Literatur.

Ingrid J. hat im Jahr 2024 zum ersten Mal von dem Angebot gehört. Seitdem nimmt sie regelmäßig daran teil. Sie interessiert sich besonders für Kunst, Geschichte und Politik. „Ich setze mich hin und mache eine Stunde gar nichts außer zuzuhören“, sagt sie. Vorher überlege sie sich oft, wie sie selbst diese Führungen anfangen oder was sie sagen würde. „Das Werk wird meist so beschrieben, dass man es sich richtig vorstellen kann. Es ist ein tolles Angebot“, so die 85-Jährige.

Stefanie Reimers steht in der Ausstellungshalle, schaut auf eine großformatige Installation und spricht ins Telefon.
Die Ausstellung "Wunderbild" zeigt großformatige Installationen der Künstlerin Katharina Grosse. Stefanie Reimers beschreibt den Zuhörenden die Kunstwerke.

Reimers, die Kunstwissenschaftlerin ist, nennt das „Wunderbild“ am Telefon „bunt, farbgewaltig, farbenfroh“. Es würde aussehen, als ob die bunten Flächen vorn und die weißen Flächen weiter hinten wären. Dadurch wirke es so, als könne man in das Bild hineinschauen. Manche Farbflächen würden sie an das „Blaue Pferd“ von Franz Marc und andere an esoterische Farbverläufe erinnern.

Sie spricht über den Ort der Ausstellung und wie sich das Licht im Tagesverlauf verändert. Sie erzählt von der 64-jährigen deutschen Künstlerin Katharina Grosse und wie diese für das „Wunderbild“ Stoffbahnen in einer großen Halle auf den Boden gelegt und mit Farbe besprüht hat. Zweimal gibt es Gelegenheit, Fragen zu stellen: Ob die Farbschichten zu ertasten wären, möchte jemand wissen, und wie die Ausstellung zustande kam, ein anderer. Reimers antwortet.

Stefanie Reimers betrachtet ein Ausstellungsstück, telefoniert dabei.
Stefanie Reimers ist Kunstwissenschaftlerin. Sie beschreibt am Telefon die Werke der Ausstellung genau und macht so so erlebbar. © Klaus Lange / VdK

Das Angebot „Bei Anruf Kultur“ ist kostenlos. Gefördert wird es von Aktion Mensch und der Hamburger Kulturbehörde. Die Förderung deckt rund 75 Prozent der Kosten. Den Rest müssten sie selbst aufbringen, sagt Wölwer. Leicht sei das nicht.

Das Programm ist als Newsletter, per Post, auf der Webseite und über eine telefonische Hotline verfügbar. Anmelden können sich Interessierte telefonisch oder über die Webseite. Sie erhalten dann eine Telefonnummer, über die sie sich drei Minuten vor dem Termin einwählen. Eine Moderatorin koordiniert den Ablauf und kümmert sich um die Technik. Die Führung dauert eine Stunde. „Es muss allen möglich sein, sich zu informieren, das Programm zu hören und sich anzumelden“, so Wölwer.

Ingrid J. hat die Telefonführung zum „Wunderbild“ sehr gefallen. Sie hat auch schon den nächsten Museumsbesuch per Telefon geplant: Es ist die Ausstellung „Marga Böhmers Katzen“ im Museum Peter August Böckstiegel im westfälischen Werther. 

Bei Anruf Kultur: Infos und Programm

„Bei Anruf Kultur“ bietet telefonische Kulturführungen aus bundesweit über 100 Museen, Gedenkstätten, Galerien und weiteren Kulturorten an. Alle Infos auf der Website unter

Externer Link:www.beianrufkultur.de

Blick in den Ausstellungsraum von "Wunderbild" in den Deichtorhallen Hamburg
Im aktuellen Programm von "Bei Anruf Kultur" ist die Führung durch die Ausstellung "Wunderbild" mit Installationen von Katharina Grosse in den Hamburger Deichtorhallen.