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Der Palliativmediziner Sven Gottschling spricht im Interview über gefährliche Medikamente und sein Buch „Schmerz los werden“.
Sie kritisieren in Ihrem Buch, dass es viel zu wenig Schmerztherapeuten für rund 23 Millionen Menschen in Deutschland gibt, die an chronischen Schmerzen leiden. Woran liegt das?
Sven Gottschling: Schmerzmedizin ist erst seit 2016 ein Lehr- und Pflichtprüfungsfach im Medizinstudium. Bis dahin haben Ärzte nichts über Schmerztherapie gelernt. Zudem gibt es viel zu wenig Ausbildungsstellen und das Gehalt ist unattraktiv. Wenn sich ein Orthopäde weiterbildet und Schmerztherapeut wird, darf er nur noch 300 Patienten im Quartal behandeln, so dass er viel weniger verdient.
Was haben Ihre Patienten erlebt?
Sven Gottschling: Viele haben eine regelrechte Odyssee hinter sich. Oft leiden sie seit Jahren täglich Schmerzen, haben schon unzählige Spritzen bekommen. Manchmal ist die Ursache einfach eine Blockade im Bereich der Halswirbelsäule oder des Kiefergelenks, die durch ganz simple Maßnahmen wie Akupunktur behoben werden kann. Viele unnötige Eingriffe könnten vermieden werden, wenn sich die Ärzte in der Schmerztherapie besser auskennen würden. Das würde auch unendlich viel Kosten sparen.
Was sollte ein Arzt nicht tun?
Sven Gottschling: Patienten sollten nicht über einen längeren Zeitraum mit Nicht-Opioid haltigen Schmerzmitteln behandelt werden, denn Medikamente wie Diclofenac, Ibuprofen oder Aspirin haben ein sehr hohes Risiko. Paracetamol ist beispielsweise in der Schmerztherapie völlig unwirksam. Andere Alternativen wie Novalgin stehen hingegen völlig zu Unrecht in Verdacht, gefährlich zu sein.
Warum wird Ibuprofen trotzdem so häufig verschrieben?
Sven Gottschling: Vielen Ärzten ist nicht bewusst, welche Gefahr von diesen Medikamenten ausgeht. Durch Ibuprofen oder Diclofenac wird das Risiko für einen Schlaganfall oder Herzinfarkt verdreifacht. Niedrig dosiert beugt ASS einem Herzinfarkt vor, aber als Schmerzmittel in hoher Dosis ist es für ältere Menschen Gift. Das müssen Ärzte und Patienten wissen, weil diese Medikamente frei verkäuflich sind. Dadurch wird ja eine gewisse Harmlosigkeit suggeriert, die ich sehr gefährlich finde. Diese Medikamente sollten rezeptpflichtig sein.
Wieviel Ibuprofen sollte man maximal einnehmen?
Sven Gottschling: Ich empfehle bei einer Daueranwendung drei bis sieben Tage und im Monat nicht öfter als fünf Tage. Im Jahr entspricht das 60 Einnahme-Tagen. Da sind sehr viele Menschen deutlich drüber. Das ist lebensgefährlich, einerseits in Bezug auf die Nierenfunktion, anderseits bezüglich tödlicher Magen-Darm- Blutungen. Schätzungen zufolge sterben in Deutschland jedes Jahr rund 4000 Menschen durch Schmerzmittel bedingte Blutungen. Das heißt, dass mehr Menschen durch frei verkäufliche Schmerzmittel sterben als bei Verkehrsunfällen!
Was ist die Alternative zu Ibuprofen?
Sven Gottschling: Alternativen sind nicht-medikamentöse Therapien statt des kurzen und knackigen Griffs zur Tablette, was viele aber nicht hören wollen. Wenn Stress am Arbeitsplatz zu Verspannungen oder Kopfschmerzen führt, nützt es nichts, jeden zweiten Tag eine Tablette einzuwerfen. Bei akuten Schmerzen ist es kein Problem, ein paar Tage diese Medikamente zu nehmen. Bei chronisch gewordenen Schmerzen brauchen wir aber andere Medikamente, eventuell ist ein Opioid ratsam.
Opioide werden jedoch kritisch gesehen, weil sie abhängig machen können.
Sven Gottschling: Hier gibt es sehr viele Fehlinformationen und große Angst, obwohl Opioide in der Langzeittherapie viel weniger Nebenwirkungen haben und besser wirken, zudem kann man sie sehr niedrig dosieren. In Bezug auf Abhängigkeit muss man zwischen körperlicher und psychischer Abhängigkeit unterscheiden. Letztere kann man durch die Gabe verzögert wirkender Opioide vermeiden. Die körperliche Gewöhnung sehen wir bei vielen anderen Medikamenten auch und man muss sie dann eben entsprechend ausschleichen, wenn man sie nicht weiter braucht. Wenn jemand aber unter Dauerschmerzen leidet, bei denen nur noch Opioide helfen, dann gehört diese Therapie zur lebenslangen Dauertherapie dazu, wie bei anderen die Blutdruckpille. Genau darum ist es so wichtig, dass Ärzte in Schmerztherapie ausgebildet sind, damit Opioide richtig eingesetzt werden.
Warum gibt es immer mehr Schmerzpatienten?
Sven Gottschling: Das wundert mich nicht, denn die Schlagzahl unseres Alltags und der Druck durch ständige Verfügbarkeit und Erreichbarkeit haben extrem zugenommen. Bei Kindern und Jugendlichen macht sich das durch einen massiven Anstieg von Kopfschmerzen vor allem in den letzten zehn Jahren bemerkbar. Wenn Kinder durchgetaktet werden wie Erwachsene, sind körperliche Beschwerden als Folge normal.
Was muss der Patient selbst tun?
Sven Gottschling: Der Patient muss selbst aktiv werden – Stress reduzieren, sich mehr bewegen, eventuell seinen Lebensstil verändern. Das Problem ist aber, dass viele Patienten nicht willens sind, selbst etwas für sich zu tun. Sie erwarten, dass der Arzt ihnen eine Spritze gibt und das Problem für sie beseitigt. Das ist der falsche Weg. Wir können keine Gesundheitsprobleme wegzaubern.
Und wenn hinter den Schmerzen ein Bandscheibenvorfall steckt?
Sven Gottschling: Natürlich muss man unterscheiden zwischen häufig vorkommenden, harmlosen Rückenschmerzen und solchen, die durch Bandscheibenvorfällen oder Wirbelkörpereinbrüchen bei Osteoporose bedingt sind. Ein erfahrener Arzt braucht aber keine Bildgebung, um zwischen einem Bandscheibenvorfall und einem banalen Hexenschuss zu unterscheiden. Man kann die meisten Schmerzen durch ein Gespräch und eine körperliche Untersuchung eingrenzen und sich teure Untersuchungen sparen. Auch Rückenoperationen, in denen Deutschland Meister ist, helfen nur in den wenigsten Fällen gegen Rückenschmerz.
Wie sieht es bei Schmerzen nach Operationen aus?
Sven Gottschling: Auch hier stehen wir sehr schlecht da. 80 Prozent der Patienten haben nach einer OP keine adäquate Schmerztherapie. Das zeigt, wie groß das Wissensdefizit und der Nachholbedarf sowohl bei Profis als auch bei Laien sind. Es ist Unsinn, dass Schmerzen zu Operationen dazugehören. Ziel meines Buches ist, den Menschen zu sagen, dass sie Schmerzen nicht aushalten müssen. Ihnen kann geholfen werden.
Ältere Menschen nehmen oft fünf Medikamente oder mehr ein – mit welchen Folgen?
Sven Gottschling: Ab fünf Medikamenten wissen wir nicht mehr, was womit interagiert. Aus der klinischen Erfahrung wissen wir, dass ältere Menschen, die diese Tabletten nicht mehr schlucken können, weil sie auf der Intensivstation liegen, regelrecht aufblühen. Ich halte es für irrsinnig, mit welchen Medikamenten wir ältere Menschen füttern.
Wie sieht es mit der Schmerzbehandlung von älteren Menschen aus?
Sven Gottschling: Wir haben das Problem, dass ältere Menschen häufig viel zu spät und völlig unterdosiert Schmerzmedikamente erhalten. Das trifft vor allem bei Demenz zu, wenn sich Menschen nicht mehr so gut äußern können. Es gibt Studien, wonach Menschen mit Demenz nach Operationen um ein Drittel weniger Schmerzmittel erhalten, das ist grausam. Menschen in Altenhilfe-Einrichtungen sind ebenfalls schlecht versorgt. Bis zu 80 Prozent haben Schmerzen, bei 25 Prozent sind die Schmerzen unerträglich. Das sind katastrophale Zustände, die nicht sein müssten. Ein weiterer Punkt ist, dass Nicht-Opioid-haltige Medikamente wie Diclofenac für alte Menschen besonders risikoreich sind.
Sind Schmerzen im Alter oder am Lebensende normal?
Sven Gottschling: Schmerz ist nie normal, sondern ein lebenswichtiges Warnsignal des Körpers. Wenn Schmerz chronisch wird, liegt eine eigenständige Erkrankung vor. Im Alter häufen sich Schmerzgründe wie degenerative Gelenkerkrankungen, Wundsein durch Inkontinenz oder eine schlecht sitzende Prothese. Alter ist kein gutes Schmerzmittel, weil die Schmerzempfindlichkeit im Alter zunimmt. Das bedeutet, dass wir eine verantwortungsvolle und gut gesteuerte Schmerztherapie für Ältere brauchen. Kein Mensch muss sich mit Schmerzen im Alter abfinden! Und wir können den Menschen die Angst vor dem Sterben nehmen, weil es exzellente Therapien gibt, mit denen wir Schmerzen am Lebensende unter Kontrolle bekommen.
Prof. Dr. med. Sven Gottschling leitet das Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes. Für sein erstes Buch „Leben bis zuletzt: Was wir für ein gutes Sterben tun können“ wurde er mit dem HomBuch-Preis in der Kategorie „Sachbuch“ ausgezeichnet. Sein zweites Buch „Schmerz los werden“ ist im Oktober im Fischer-Verlag erschienen. Beide Bücher entstanden in Zusammenarbeit mit dem Autor und Coach Lars Amend.
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