Jetzt nutzt er den Stehrollstuhl, so oft er kann

1996 wird bei Michael Sievers (Name von der Redaktion geändert) Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert – da ist er gerade mal 20 Jahre alt. Ein Schock für den jungen Mann und seine Familie. Mit der Zeit schreitet die Krankheit weiter voran und schränkt Michael Sievers’ Leben zunehmend ein. Seine Familie kümmert sich aufopferungsvoll um ihn, aber irgendwann schafft sein Vater Wolfgang es nicht mehr alleine.

Ein Rollstuhlnutzer bedient den Joystick zur Steuerung des Rollstuhls.
Die Richterin stellt fest, dass ein Versorgungsanspruch nicht ausgeschlossen werden könne, bloß weil der Kläger auch weiterhin auf die Hilfe anderer Personen angewiesen sei. | © SKS Rehab

Eine persönliche Assistenz betreut Michael Sievers nun rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Mit Ende Dreißig kann er nicht mehr gehen und nur noch mithilfe anderer kurze Zeit stehen – etwa um in seinen Rollstuhl umzusteigen. Spastiken schränken seine Bewegungsmöglichkeiten noch weiter ein. Michael Sievers hat inzwischen einen Grad der Behinderung (GdB) von 100, diverse Merkzeichen und einen hohen Pflegegrad. Um sich draußen fortzubewegen, hat er einen E-Rollstuhl, in seinem Elternhaus nutzt er einen normalen Rollstuhl.

Durch das viele Sitzen und Liegen leidet er zusätzlich unter Druckgeschwüren, seine Lunge wird schwächer. Und weil im Sitzen das Zwerchfell höher steht, fällt ihm das Atmen immer schwerer. Seine Unfähigkeit zu stehen belastet ihn psychisch, denn gerne würde er anderen Menschen wieder auf Augenhöhe begegnen können. Michael Sievers entwickelt eine Anpassungsstörung und wird phasenweise depressiv.

Symbolbild: Eine Beraterin und ein VdK-Mitglied führen ein Beratungsgespräch.
Die VdK-Rechtsberater bleiben am Ball und setzen sich für unsere Mitglieder ein. | © VdK Deutschland

Helfen könnte ihm allerdings ein elektrischer Stehrollstuhl. Ein solcher bringt den Nutzer auf Knopfdruck in eine senkrechte, stehende Position. Diese aufrechte Körperhaltung entlastet den Kreislauf und die Organe, beugt Dekubitus vor und ließe Michael Sievers wieder mehr am Leben teilhaben. Seine Ärzte legen ihm nahe, dieses Hilfsmittel bei seiner Krankenkasse zu beantragen und stellen ein Rezept aus. Stehrollstühle sind im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt und die Kosten können von den Krankenkassen übernommen werden. Gerade Patienten mit progredienter MS werden sie häufig empfohlen.

2013 beantragt Michael Sievers also bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für einen elektrischen Stehrollstuhl in Höhe von rund 10.000 Euro. Im Auftrag der Krankenkasse besucht der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) Familie Sievers. Die Mitarbeiter prüfen dabei allerdings nur, welche Hilfsmittel ihm schon zur Verfügung stehen. Kurz darauf wird sein Antrag abgelehnt. Der MDK sieht keine medizinische Notwendigkeit für einen Stehrollstuhl, zudem könne er den Joystick zur Steuerung nicht alleine bedienen.

Die Krankenkasse bietet ihm stattdessen die Kostenübernahme für einen Stehständer, beziehungsweise einen Freibarren an. Mit dem nötigen Zubehör kostet dieser rund 8000 Euro. Mit dem Barren könnte Michael Sievers zwar regelmäßig Stehübungen machen, mobil ist das Gerät jedoch nicht. Zudem müssen ihn zwei Personen bei der Nutzung unter-stützen.

Ein elektrischer Stehrollstuhl in Stehposition.
Die aufrechte Position entlastet die Atmung und wirkt auch Druck­geschwüren entgegen. | © SKS Rehab

Im Mai 2014 wenden sich Michael und Wolfgang Sievers an den VdK Hamburg. Hier übernimmt die VdK-Rechtsberaterin Kathrin Brückner ihren Fall und legt Widerspruch gegen den Bescheid ein. Die Juristin argumentiert, dass Michael Sievers mit dem beantragten Hilfsmittel ein menschliches Grundbedürfnis teilweise wieder möglich wäre: das Stehen. Zudem verweist sie auf Urteile in ähnlichen Fällen. Nun gehen Schriftsätze hin und her und es werden weitere Befunde eingeholt.

Den Kernpunkt der Ablehnung, dass Michael Sievers den Stehrollstuhl ohnehin nicht alleine bedienen könne, lässt die VdK-Juristin nicht gelten. Denn der von der Krankenkasse angebotene Stehbarren lässt sich ebenfalls nur mit Hilfe von zwei weiteren Personen nutzen. Zudem benötigt dieser auch noch einen extra Raum, um aufgestellt zu werden.

Erst im Februar 2015 sagt die Krankenkasse eine erneute Prüfung durch den MDK zu. Aber wiederum geschieht drei Monate lang nichts. Kathrin Brückner droht mit einer Untätigkeitsklage. Jetzt stellt sich heraus, dass der MDK schon erneut nach Aktenlage geprüft und wiederum abgelehnt hat. Darüber wurde die Rechtsberaterin schlicht nicht informiert. Eine persönliche Begutachtung fand überdies nicht statt. Im Mai 2015 gibt die Krankenkasse die Angelegenheit dann an die Widerspruchsstelle.

Michael Sievers Gesundheitszustand hat sich inzwischen weiter verschlechtert. Er macht eine Reha und der Klinikbericht dokumentiert eine deutliche Atemmuskelschwäche. Trotzdem lehnt auch die Widerspruchsstelle im Juli die Kostenübernahme für den Stehrollstuhl ab. Die Begründung: „Der Rollstuhl würde nicht der Pflegeerleichterung dienen, da die Pflege nicht im Rollstuhl stattfindet. Zur Durchführung von Pflegemaßnahmen ist weder der Rollstuhl noch die Stehfunktion notwendig.“ Zudem könne der Versicherte den Stehrollstuhl nicht alleine bedienen.

Familie Sievers und Kathrin Brückner können darüber nur den Kopf schütteln. Denn: Michael Sievers kann kein Hilfsmittel alleine bedienen – das von der Krankenkasse zugestandene Stehgerät schon gar nicht. Zudem hat er ja eine 24-Stunden-Assistenz an seiner Seite. Kathrin Brückner empfiehlt ihrem Mandanten die Klage vor dem Hamburger Sozialgericht. Eine langwierige Angelegenheit, aber kurz zuvor hat der Hamburger VdK hier ein anderes Verfahren ebenfalls um einen Stehrollstuhl erfolgreich beendet.

Die VdK-Juristin reicht die Klage ein und betont dabei, dass der Stehrollstuhl kein Gebrauchsgegenstand, sondern ein Hilfsmittel sei. Zudem ermögliche dieser ihrem Mandanten das Grundbedürfnis des Stehens und erschließe ihm geistige und körperliche Freiräume. Am Sozialgericht liegt der Fall bis April 2016. Kathrin Brückner erkundigt sich dann bei Gericht nach dem Sachstand, aber wieder geschieht mehrere Monate lang nichts. Bis Juli 2017 holt das Sozialgericht weitere ärztliche Befunde ein. Alle angeschriebenen Ärzte bejahen erneut die Anschaffung des Stehrollstuhls.

Endlich, nach fünf Jahren, wird dann für Februar 2018 ein Termin für eine mündliche Erörterung vor Gericht anberaumt. Diese wird jedoch kurzfristig verschoben, weil das Gericht ein Urteil des Bundessozialgerichts abwarten will, das vielleicht Einfluss auf das Verfahren haben könnte. Neuer Termin: August 2018.

Die VdK-Juristin kritisiert die unangemessen lange Verfahrensdauer und weist auf die Verschlechterung von Michael Sievers Gesundheitszustand hin. Ein Stehrollstuhl erhalte nicht nur die Gesundheit ihres Mandanten, sondern verbessere diese sogar. Das bestätigen auch Michael Sievers’ Neurologe, sein Lungenfacharzt sowie seine Therapeuten, denn er bekommt im Sitzen immer schwerer Luft und wäre bald sogar auf eine Heimbeatmung angewiesen. Der Stehbarren, den die Krankenkasse nach wie vor für ausreichend und ange-messen hält, kann von Michael Sievers nur zweimal die Woche für jeweils rund 20 Minuten genutzt werden. Zudem rutschte er im Februar 2018 bei diesem Training aus und brach sich den rechten Arm. Ein Jahr zuvor war er schon an einer gefährlichen Lungenentzündung erkrankt. Das ficht die Krankenkasse nicht an, sie hält vor Gericht an ihrer bisherigen Linie fest.

Die Erörterung dauert eine Dreiviertelstunde. Die Richterin stellt fest, dass ein Versorgungsanspruch nicht ausgeschlossen werden könne, bloß weil der Kläger auch weiterhin auf die Hilfe anderer Personen angewiesen sei. Sie betont auch den Vorteil, dass für den Stehrollstuhl nur eine Hilfsperson nötig ist und Michael Sievers diesen auch außerhalb seines Zuhauses nutzen könne. Dass der MDK ihn nie persönlich begutachtet hat, kritisiert die Richterin deutlich. Das Gericht erlässt den Beschluss, dass die Krankenkasse zu den rich-terlichen Hinweisen Stellung zu nehmen hat und abermals ein Anerkenntnis prüft. Die Gerichts- und Anwaltskosten muss die Krankenkasse übernehmen.

Im September 2018 erklärt die Krankenkasse sich schließlich damit einverstanden, die Kosten für Michael Sievers Stehrollstuhl zu übernehmen. Seinem Vater und ihm fällt ein Stein vom Herzen. Allerdings wird der vor nunmehr fünf Jahren beantragte Stehrollstuhl nicht mehr angeboten, da es den Hersteller nicht mehr gibt. Michael Sievers muss bei einem Sanitätshaus also den Kostenvoranschlag für ein anderes Modell einholen und diesen erneut bei der Krankenkasse einreichen – nun findet er sogar ein moderneres und günstigeres Modell. Die Krankenkasse prüft seinen neuen Antrag und endlich, am 21. Januar 2019, erhält Michael Sievers seinen elektrischen Stehrollstuhl, um den er fast sechs Jahre lang kämpfen musste.

Inzwischen geht es Michael Sievers etwas besser: Seine Atmung hat sich stabilisiert und er nutzt seinen Stehrollstuhl, so oft es geht.

scb

Schlagworte VdK-Rechtsberatung | Hilfsmittelversorgung | Stehrollstuhl | Multiple Sklerose

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