Damit sich Deutschland nicht weiter spaltet

Nicht erst seit der Corona-Krise ist für den Sozialverband VdK klar: Unser Sozialstaat muss neu aufgestellt werden. Wie die notwendigen Reformen aussehen und wie sie sich umsetzen lassen, zeigt VdK-Präsidentin Verena Bentele in einem lesenswerten neuen Buch „Wir denken neu – Damit sich Deutschland nicht weiter spaltet“, das sie mit ihrem VdK-Autorenteam, Dr. Ines Verspohl und Philipp Stielow, vor Kurzem veröffentlicht hat.

Verna Bentele im Gespräch mit Gabor Steingart und den Co-Autoren.
Verena Bentele hat ihr neues Buch in der Urania Berlin vorgestellt. Das Gespräch mit ihr und den Co-Autoren wurde von Gabor Steingart moderiert – zu sehen auf www.vdk.de/wir-denken-neu. | © Henning Schacht

Mit freundlicher Genehmigung des Europa Verlags drucken wir hier einige Textstellen aus dem Buch für unsere Leser ab – die erste zu einem Thema, das früher oder später jeden betrifft.

Für mich als Präsidentin des VdK ist Pflege ein wichtiges Thema. Seit ich mich in dem Verband engagiere, habe ich unzählige Fälle unmittelbar miterlebt oder geschildert bekommen. Ich habe häufig beobachtet, wie tagtäglich neue Herausforderungen im Pflegealltag auftauchen und wie die pflegenden Angehörigen ständig an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und darüber hinaus geraten.

Exemplarisch für viele andere Schicksale ist der Fall meiner Freundin Anna und deren Mutter Marlene. Annas Vater Konrad bekam, je älter er wurde, immer größere körperliche Probleme. Er brauchte schleichend mehr und mehr Hilfe und schließlich Pflege. Anna war aus beruflichen Gründen schon lange aus der Kleinstadt, in der ihre Eltern lebten, weggezogen. Trotzdem versuchte sie, ihrer Mutter zu helfen, und nutzte Teile ihres Jahresurlaubs dafür, zu ihren Eltern zu fahren und beim Vater zu bleiben, damit die Mutter mal aus dem Haus konnte. Anna hatte allerdings außer ihrem Beruf auch noch einen Mann und zwei Kinder. Verständlicherweise drängte ihr Ehemann darauf, dass Anna und Marlene sich endlich der Realität stellten: Konrad könne nicht länger zu Hause betreut werden.

Auch der Hausarzt nahm Marlene ins Gebet: Er könne die Situation nicht mehr mittragen, Konrad müsse endlich in ein Heim. Obwohl sie sich dafür schämte, gestand Marlene, dass sie sich das schlichtweg nicht leisten könnten. 2000 Euro müssen Pflegebedürftige im Schnitt bei der Unterbringung im Heim aus eigener Tasche zahlen. Marlene bliebe dann selbst kaum mehr etwas zum Leben. Zum Sozialamt gehen? Das fand Marlene entwürdigend und beschämend. Und Anna wollte sie nicht um einen Zuschuss bitten. Konrad hatte bis kurz vor seinem Tod Pflegegrad 3. Erst kurz bevor er starb, wurde ihm die nächsthöhere Stufe zuerkannt.

Um es vorwegzunehmen: Marlene hat ihren Mann bis zu dessen Tod zu Hause gepflegt, die letzten vier Jahre sehr intensiv und fast bis zu ihrer völligen Erschöpfung.

So wie Marlene geht es vielen. Das fehlende Geld für die stationäre Pflege und das schlechte Gewissen, den geliebten Menschen ins Heim „abzuschieben“ – zwei von etlichen Gründen, warum drei von vier Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland nicht in einer Einrichtung, sondern zu Hause leben und gepflegt werden. Wenn mich VdK-Mitglieder auf die Situation in der Pflege ansprechen, dann höre ich auch oft: „Meine Mutter oder mein Vater möchten nicht in eine Pflegeeinrichtung. Sie haben Angst, dass dort niemand mit ihnen einen Spaziergang macht oder ihnen beim Essen Gesellschaft leistet.“ Das zeigt mir immer wieder, wie wichtig es für viele Menschen ist, selbst ihr Leben in der Hand zu haben, ohne fremde Hilfe vor die Tür zu gehen und einzukaufen oder, wenn man jünger ist, seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten. Aber je mehr man die Fähigkeit verliert, seinen Alltag alleine zu bewältigen, desto deutlicher wird einem bewusst, wie sehr man sich immer auf die eigene Selbstständigkeit verlassen hat, wie brutal ihr Verlust ist und wie schwer es einem fallen kann, andere um Hilfe zu bitten.

Verena Bentele nutzt bei Lesen die Blindenschrift.
Lesen durch Fühlen: Die Buchvorstellung mit Verena Bentele ist im Live-stream auf www.vdk.de/wir-denken-neu zu sehen. | © Henning Schacht

Gerade aufgrund meiner eigenen Biografie ist mir bei diesem Thema eines ganz wichtig: Selbstbestimmung und Gestaltung des eigenen Lebens sind nicht verhandelbar. Bei der Pflege geht es um einen Kernbereich unseres Rechts und unserer Verfassung: das Bewahren von Würde. In der Pflege wird die Würde des Menschen im wahrsten Sinne des Wortes permanent angetastet, bestenfalls durch feinfühlige und liebevolle helfende Hände, manchmal aber auch in anderer, weit gröberer Form. Pflege und Gewalt sind leider an vielen Orten Alltag. Dabei meine ich weniger, dass Pflegebedürftige geschlagen oder brutal misshandelt werden, obwohl auch dies in diesem Land passiert. Viel öfter aber werden Pflegebedürftige Opfer von Gewalt in einem weiteren Sinn, nämlich durch Vernachlässigung, seelische Grausamkeit und Misshandlung, aber auch durch unbedarfte, gar nicht bewusste Eingriffe in ihre Intimsphäre bis hin zu sexuellen Übergriffen. Ich erspare mir, hier die vielen Studien zu Gewalt in der Pflege anzuführen, ganz wichtig ist es mir vor allem zu betonen, dass dies nichts mit denjenigen Pflegekräften in unserem Land zu tun hat, die mit unermüdlichem Einsatz und großer Hingabe ihrem Beruf nachgehen und zu Recht immer häufiger als Alltagshelden gefeiert werden. Darauf, dass ihnen allerdings die wirkliche – also die finanzielle – Anerkennung und der soziale Status, der ihnen gebührt, verweigert werden, werde ich später noch zurückkommen.

Bereits vor der Corona-Krise hat der Sozialverband VdK die ungleichen Bildungsvoraussetzungen in Deutschland kritisiert und ist sich sicher: Die Gesellschaft sägt damit an ihrer Zukunft.

In Deutschland geht die Schere zwischen wohlhabenden und armen Familien immer weiter auf. Gleichzeitig ist der Schulerfolg weiterhin stärker von der sozialen Herkunft der Kinder abhängig als im Durchschnitt der OECD-Länder. „Chancengerechtigkeit bleibt eine der Herausforderungen für das deutsche Bildungssystem“, heißt es in einer Pressemitteilung der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zum PISA-Test von 2018. Der hatte unter anderem gezeigt, dass sich „seit der letzten PISA-Studie mit Leseschwerpunkt (2009) beim Leseverständnis die Abhängigkeit der Leistung von der Herkunft noch verstärkt hat“.

Wenn also Politiker, Manager oder Wissenschaftler nicht müde werden zu betonen, dass der größte Rohstoff, den Deutschland besitzt, gut ausgebildete junge Menschen sind, dann müssen sie sich endlich ernsthaft mit der Situation von Kindern in diesem Land auseinandersetzen, und das bedeutet, deutlich mehr zu fordern, als immer nur nach besserer Bildung zu rufen. Dass Kinder und Jugendliche die Zukunft einer Gesellschaft sichern, ist eine Tatsache. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass eine Gesellschaft, die die Rechte, Interessen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen vernachlässigt, ihre eigene Zukunft aufs Spiel setzt.

Wer wissen will, wie es besser geht, muss einfach nur seinen Blick auf die skandinavischen Länder richten. In unserem Nachbarstaat Dänemark müssen sich Eltern nicht entscheiden: Familie oder Erwerbstätigkeit? Dort besuchen zwei Drittel der Kinder unter zwei Jahren eine Betreuungseinrichtung. Über 70 Prozent der Mütter arbeiten in Vollzeit. Das heißt: In Dänemark lassen sich Kinder und Beruf gut miteinander vereinbaren. Die Frage, vor der hierzulande viele Eltern stehen „Weiter arbeiten oder zu Hause bleiben – Kind betreuen und Sozialhilfe beantragen?“ stellt sich dänischen Familien nicht in dieser Schärfe. Das Ergebnis: nur ein Drittel so viele arme Kinder wie in Deutschland.

Der Armuts- und Reichtumsbericht 2021 zeigt: Die sozialen Mindestsicherungssysteme erfüllen ihren Zweck nicht. Die finanziellen Leistungen sind zu gering, sie schützen nicht vor Armut und ermöglichen keine soziale Teilhabe. Damit die Schere in und nach der Corona-Krise nicht noch weiter auseinander geht, fordern die Autoren des Buchs staatliche Hilfe nicht nur für Arme und eine gerechte Finanzierung.

Während der Finanzkrise 2008/09 hat der deutsche Staat viele Banken und Unternehmen mit Hilfskrediten, Bürgschaften und Staatsbeteiligungen vor der Pleite gerettet. Für die Rettungsmaßnahmen wurde insgesamt eine Summe von weit über 500 Milliarden Euro vom Bund aus Steuermitteln als Kredit bereitgestellt. Große Teile dieser Kredite wurden zurückgezahlt, aber eine Anfrage der Grünen an die Bundesregierung 2018 hat ergeben, dass mindestens 59 Milliarden als Kosten der Krise am Steuerzahler hängen geblieben sind. Andere Schätzungen gehen von deutlich mehr aus.

Auch jetzt, in der durch die Pandemie ausgelösten globalen Wirtschaftskrise, haben die staatlichen Finanzhilfen wesentlich dazu beigetragen, dass es zu keiner Pleitewelle kam und die Aktienkurse sich nach einem kurzzeitigen Einbruch schnell wieder erholen konnten.

Selbstverständlich ist es Aufgabe des Staates, die Wirtschaft in Krisen zu stützen, und natürlich profitieren davon alle in der Gesellschaft. Dank dieser Unterstützung mithilfe von Steuergeldern konnten auch die Finanzmärkte stabilisiert und größere Kursverluste bei den Aktienwerten verhindert werden. In Deutschland konzentriert sich der Aktienbesitz fast ausschließlich bei denjenigen Bürgern, die hohe Einkommen beziehen oder Vermögen besitzen.

Wer größere Aktienpakete besitzt, hat also 2008 wie auch 2020 von den staatlichen Hilfsmaßnahmen in besonderem Maße profitiert. Wäre dies nicht ein weiteres Argument dafür, etwas an die Gesellschaft zurückzugeben, die mit ihren Steuerzahlungen die Rettung der Unternehmen ermöglicht hat?

Zusammenfassend lässt sich sagen: Eine Vermögensabgabe ist verfassungsgemäß, gerecht und machbar. Wir sollten sie nutzen, um die Kosten der Corona-Krise jetzt zu bezahlen und sie nicht der nächsten Generation aufzubürden. Schulabgänger, die keine Lehrstelle finden, Studenten, die ihren Minijob verloren haben – die junge Generation zahlt bereits ihren Preis für die Corona-Pandemie. Jetzt sind die an der Reihe, einen Beitrag zu leisten, die im Laufe ihres Lebens ein großes Vermögen erworben oder geerbt haben.

Buchtipp

Abbbildug Titelseite Buch Verena Bentele: Wir denken neu. Damit sich Deutschland nicht weiter spaltet.
© Henning Schacht

„Wir denken neu – Damit Deutschland sich nicht weiter spaltet“, Europa Verlag 2021, 133 Seiten, zwölf Euro.
ISBN 978-3-95890-361-6

Schlagworte Verena Bentele | Buch | Damit sich Deutschland nicht weiter spaltet

Rat und Tat | Was ist der Grad der Behinderung (GdB)?

Viele Menschen haben körperliche, geistige oder seelische Beeinträchtungen. Um zu bemessen, wie stark diese Beeinträchtigungen im Alltag sind, gibt es den Grad der Behinderung - kurz GdB. Wo kann man einen GdB beantragen? Was sind die Voraussetzungen? Was sind Nachteilsausgleiche? Kai Steinecke erklärt in unserem neuen VdK-TV-Format "Rat und Tat", was man dazu wissen muss.

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Symbolbild: Eine Gruppe von Menschen mit und ohne Behinderung mit Protestplakaten.
Der VdK ist die größte Selbsthilfe-Organisation in Deutschland, er setzt sich seit 60 Jahren erfolgreich für die Interessen seiner Mitglieder ein.


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