Lea ist auf ihrer Schule willkommen

Lea und die anderen vier Teenager suchen sich einen freien Tisch in der Aula. Der Rest ihrer Klasse sitzt im Physikraum. Dort gibt es keine Fenster, und das macht Lea manchmal Angst. Die 14-Jährige wurde mit dem Down-Syndrom geboren – wie Henri.

Bildausschnitt aus dem Schulunterricht
Lea in ihrer Arbeitsgruppe mit Klassenlehrer Ingo Woitke und Sonderschullehrer Olaf Schneider (rechts), der ihr beim gemeinsamen Lernen zur Seite steht. | © undesvereinigung Lebenshilfe, Bernd Lammel

Auch Henri wollte nach der gemeinsamen Grundschulzeit mit seinen nicht behinderten Freunden aufs Gymnasium. Aber das Gym­nasium wollte Henri nicht, später bekam er auch noch eine Absage von der Realschule. So wurde ­Henri aus dem baden-württem­bergischen Walldorf in ganz Deutschland zu einer traurigen Berühmtheit, zum Zankapfel von Inklusionsgegnern und -befürwortern.

Lea Zöpfgen dagegen, das geistig behinderte Mädchen aus Wahlstedt in Schleswig-Holstein, geht seit der fünften Klasse auf das Städtische Gymnasium im benachbarten Bad Segeberg. Dort ist sie willkommen – bei den Mitschülern, den Lehrern, den Eltern. Leas Mutter, Olga Zöpfgen (42), sagt: „Ich wollte mein Kind nur an eine Schule geben, wo man es haben will.“ Das Gymnasium in Bad Segeberg hat sich schon vor mehr als 15 Jahren für Schüler mit Behinderung geöffnet: für Rolli-Fahrer, blinde und gehörlose Kinder, für Schüler mit Lernschwierigkeiten oder einer geistigen Behinderung.

Lea besucht mit vier weiteren Jugendlichen, die mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung und Lernen“ unterrichtet werden, die 8c, eine von zurzeit zwei Integrationsklassen des Gymnasiums. Insgesamt hat Leas Klasse 21 Schülerinnen und Schüler. Ihr Klassenlehrer ist der 57-jährige Ingo Woitke. Er wird unterstützt von Sonderschullehrer Olaf Schneider (42). Schneider kommt von der Trave-Schule, einem Förderzentrum in Bad Segeberg, und ist mit all seinen Lehrer-Stunden ans Gymnasium abgeordnet.

Lea schreibt auf die Schultafel
An der Tafel taut Lea auf, sie schreibt einfach drauflos. | © Bundesvereinigung Lebenshilfe, Bernd Lammel

Klassenlehrer Woitke kann auf diese gute Kooperation bauen. Aus seiner langjährigen Erfahrung mit der Inklusion rät er anderen Schulen: „Fangt einfach an und lasst euch darauf ein. Macht auch mal Fehler, das ging uns nicht anders.“
Franka, Anna, Marie und Merle haben es geschafft: Lea hat bei ihnen in der Aula Platz genommen. Lea ist nicht nur schüchtern. Lea kann eigensinnig, ja richtig bockig sein. Und wenn auch noch die Angst vorm fensterlosen Physikraum dazu kommt, dann verweigert sie sich total. Deshalb hat Lea die Schulbegleiterin Dagmar Bröcker an ihrer Seite.

Doppelte Unterstützung für den Klassenlehrer

Die Mitarbeiterin der Lebenshilfe Bad Segeberg kennt das Mädchen mit Down-Syndrom bereits seit der dritten Klasse. Dieses Mal jedoch braucht die 55-Jährige nicht einzugreifen. Aus einiger Entfernung beobachtet sie die fünf Schülerinnen. Sie lesen abwechselnd eine Fantasy-Geschichte vor, die sich Merle ausgedacht hat. Als das fremde Wort „Amulett“ fällt, fragt Franka: „Weißt du, was das ist, Lea?“ Die schüttelt den Kopf. Dann erklärt Franka: „Das ist eine lange Kette mit einem Anhänger.“ Lea nickt und strahlt die anderen Mädchen an.

Olga Zöpfgen ist von solchen Szenen immer wieder beeindruckt – wie einfühlsam die Klassenkameraden mit Lea umgehen, wie geduldig, wie erwachsen. Sie sagt: „Ich weiß gar nicht, wem die Inklusion mehr bringt, den behinderten oder den nicht behinderten Kindern.“ Aber könnte es die stille, manchmal sture Lea an einer Förderschule, in einer kleineren Klasse nicht noch besser haben? Darauf gibt die Mutter eine klare Antwort: „Der beschützende Rahmen einer Behindertenschule ist nicht das wirkliche Leben. Ihre Eigenheiten würde Lea auch dort haben. Das ist eben ihre Persönlichkeit.“ Sie habe den Schritt aufs Gymnasium nie bereut. „Lea ist hier gut aufgehoben. Hier lernt sie damit umzugehen, dass sie anders ist.“

Lea in der Schulpause
Lea ist beliebt. „Sie ist eine Bereicherung, keine Belastung für die Klasse“, sagt Mitschülerin Kaya. | © Bundesvereinigung Lebenshilfe, Bernd Lammel

Am Anfang ging ihre Tochter noch auf eine Förderschule. Olga Zöpfgen und ihr Mann Oliver – zur Familie gehören auch noch die zwölfjährigen Zwillinge Emily und Naemi – wollten sich ein Bild von beiden Systemen machen. Die Mutter: „Im ersten Schuljahr hatte sie gerade mal drei Zahlen und einen Buchstaben gelernt.“ Lea wechselte auf eine inklusive Grundschule, „und am Ende der zweiten Klasse konnte sie das ganze Alphabet und für ihre Verhältnisse sehr gut lesen“. Lea lerne vor allem durch Nachahmen, erklärt ihre Mutter: „Sie braucht Vorbilder.“

„Das Beispiel von Lea zeigt, dass Inklusion auch am Gymnasium gelingen kann“, so Ulla Schmidt (65), Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Anders als beim Streitfall Henri habe sich das Gymnasium in Bad Segeberg dieser gesellschaftlichen Aufgabe gestellt. Schmidt: „Solche Leuchttürme brauchen wir noch viel mehr in Deutschland, damit die UN-Behindertenrechtskonvention Wirklichkeit wird.“

Lea mit Ihrer Mutter vor dem Eingang des Gymnasiums
Mutter Olga hat den Schritt aufs Gymnasium nie bereut. | © Bundesvereinigung Lebenshilfe, Bernd Lammel

Das bestätigt Olga Zöpfgen. Sie hat in den zurückliegenden Jahren gelernt: „Inklusion funktioniert nur dann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.“ Solange das nicht der Fall sei, müsse der Weg zur Förderschule weiter offen bleiben. „Auf gar keinen Fall darf Inklusion als Sparmodell missbraucht werden“, so Zöpfgen. Sie bedauert sehr, dass die Bundesländer so unterschiedlich weit seien bei der Inklusion. Das sei ein wichtiger Grund gewesen, warum sie mit ihrer Familie nach einem zwischenzeitlichen Umzug nach Baden-Württemberg wieder nach Schleswig-Holstein zurückkehrte.

„Lea ist bei uns am richtigen Ort. Wir würden es nie zulassen, dass sie zu etwas gezwungen wird“, sagt Klassenlehrer Woitke. Und umgekehrt sei es genauso. Alle Schüler könnten mit ihren Eltern selbst entscheiden, ob sie in eine Integrationsklasse wollen.

Kaya, die gerade auf der Feier zum 14. Geburtstag von Lea war und mit ihr schon die Grundschule besuchte, erzählt: „Lea ist eine Bereicherung, keine Belastung für die Klasse. Klar, Lea hat ihren eigenen Willen. Aber sie ist sehr unkompliziert. Das kann ich mir von ihr abgucken. Ich bin oft schwieriger.“ „Sie ist ein sehr fröhlicher Mensch“, sagt Joshi, der blondgelockte Mitschüler, der die Gabe hat, Lea aus der Schmollecke beim Sportunterricht zu holen. Und Lia findet an Lea toll, „dass sie immer das Schöne sehen kann, dass sie das Beste aus ihren Fähigkeiten macht“.

Deutsch zählt auch zu den Stärken von Lea. An der Tafel taut sie auf. Sie soll ihren Namen und ihr Alter schreiben. Sorgfältig und flüssig führt sie die Kreide: „LEA ZÖPFgen 14“. „Wie heißt denn deine Lieblingsblume?“ Sogleich erscheint „sonnenBLUMe“ auf der dunklen Fläche, und drum herum tanzen gemalte Blüten. Nun braucht Lea keine Wort-Vorschläge mehr, sie schreibt und malt einfach drauflos. „Es ist erstaunlich, wie gut Lea lesen und schreiben kann. Auch fremde Texte“, freut sich Olaf Schneider, während seine Schülerin an der Tafel in ihre eigene Welt abtaucht. Bei einem Diktat vor den Sommerferien in der Fördergruppe hatte sie 19 von 21 Wörtern richtig, wenn man die Groß- und Kleinschreibung außer Acht lässt.

Die Fächer Musik – Lea spielt Flöte und fängt jetzt mit Klavier an –, Sport, Kunst, Deutsch, Biologie, Mathematik und Physik werden zusammen mit unterschiedlichen Zielvorgaben unterrichtet. Bei Latein aber trennen sich die Wege. In diesen Stunden sind die Schüler mit Behinderung nebenan im Förderraum, um mit Sonderschullehrer Schneider Gelerntes zu vertiefen oder Lebenspraktisches einzuüben.

Einmal in der Woche steht Hauswirtschaft auf dem Stundenplan. Da wollten auch mal die nicht behinderten Klassenkameraden mitmachen. „Umgekehrte Integration“, sagt Olaf Schneider dazu.

Vertiefungsunterricht und Lebenspraxis

Schulbegleiterin Dagmar Bröcker schlägt ein zerknittertes Büchlein auf und macht sich Notizen. Auf den Seiten tummeln sich grüne, gelbe und rote Smileys. Wenn Lea alle Schulstunden eines Vormittags im Unterricht war, trägt die Lebenshilfe-Mitarbeiterin ein grünes Lächeln ein. Hat Lea zehn grüne Kringel gesammelt, gehen sie nach der Schule ein Eis essen. Gelb steht für die Hälfte der Stunden, rot bedeutet: Lea hat nur eine oder gar keine Stunde geschafft. In der letzten Zeit kommt es immer wieder vor, dass sich der Teenager spontan verliebt. Dann folgt Lea ihrem Auserwählten bis zu seiner Klasse und bleibt davor sitzen. Sie von dort loszueisen und in ihren Unterricht zu lotsen, ist dann höchste Diplomatie. Für Lea sei das nicht nur Schwärmerei, weiß Dagmar Bröcker: „Sie durchlebt das richtig. In ihrer Vorstellung heiratet Lea den Jungen und bekommt mit ihm ein Baby.“
Berufswunsch „Babysitterin“ Die fünf Mädchen in der Aula sollen sich im nächsten Schritt Foto-Motive zu Merles Fantasy-Geschichte überlegen. Schließlich ist jetzt ja Physik mit den Themen Optik, Linse und Fotografie. Die Arbeitsgruppen im Physikraum lassen aus ihren Storys auch Bilder-Geschichten entstehen. Die Schüler werden später alles selbst fotografieren, im schuleigenen Schwarz-Weiß-Labor die Filme entwickeln und Papierabzüge machen. Olaf Schneider ist sich sicher: So aufwendig könnten die übrigen Klassen den Unterricht nicht gestalten, das gehe nur in den Integrationsklassen mit der doppelten Lehrerbesetzung.

Für Lea und die anderen Förderschüler der 8c wird der Besuch des Gymnasiums nach der 9. Klasse beendet sein. Bei ihnen geht es von Beginn an nicht darum, das Abitur zu bestehen. Aber alle bekommen ein Abschlusszeugnis ohne Noten – wie an der Förderschule. Vielleicht schaffen die lernbehinderten Schüler anschließend auf der Berufsschule sogar noch den Hauptschulabschluss.

Für ihre Tochter wünscht sich Olga Zöpfgen, dass Lea die Chance erhält, sich für eine Stelle auf dem Ersten Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Auf ihren Berufswunsch hin angesprochen, antwortet Lea ohne Zögern: „Babysitterin“.

Die Schulglocke läutet. In der letzten Stunde für heute geht es weiter mit Optik. Klassenlehrer Ingo Woitke will mit den Schülern das Stecknadel-Experiment machen. Dazu müssen alle in den Physikraum. Dieses Mal traut sich Lea. Begleitet von den anderen Mädchen ihrer Arbeitsgruppe setzt sie sich lachend gleich vorne in die erste Bank. Ihre Schulbegleiterin hält wieder bewusst Abstand und nimmt in der letzten Reihe Platz. Dann holt Dagmar Bröcker ihre Kladde hervor und malt einen grünen Smiley hinein.

Peer Brocke

Schlagworte Inklusion | Schule

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