13. Februar 2023
SOZIALE GERECHTIGKEIT

„Eine sozial gerechte Gesellschaft anstreben“

Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland, spricht über Armut und Teilhabe

Seit 30 Jahren versorgen die Tafeln Menschen in Deutschland mit Lebensmitteln. Im Gespräch mit VdK-Präsidentin Verena Bentele erzählt Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland, von seinem Engagement gegen Armut.

Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland, spricht bei einer Veranstaltung. Im Hintergrund ein Banner mit dem Logo der Tafeln
Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland | © IMAGO / epd

Der Sozialverband VdK weiß, dass Menschen Sozialleistungen aus Angst und Scham nicht beantragen. Wie sind Ihre Erfahrungen bei den Tafeln?

Jochen Brühl: Das ist vor allem bei den Erstbesuchen so, dass die Leute Angst haben, erkannt zu werden. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist, dass wir den Menschen die Scham nehmen. Tafeln sind immer auch Orte der Begegnung, wo man als Mensch gesehen wird. Und 20 Prozent der Menschen, die als Kundinnen und Kunden zu uns kommen, sind auch Helfende.

Die Zahl derer, die die Tafeln aufsuchen, ist im Jahr 2022 im bundesweiten Durchschnitt um 50 Prozent gestiegen. Wie geht es Ihren Einrichtungen damit?

Jochen Brühl: Für die Tafel-Helfenden war die Corona-Zeit schon extrem herausfordernd. Dann kam dieser furchtbare Krieg, die Inflation, der Anstieg der Lebensmittel-, Wohn- und Energiekosten. Das hat die Ehrenamtlichen erneut an ihre Grenzen gebracht.

Tafeln, die vielleicht bisher 1500 Kundinnen und Kunden hatten, haben auf einmal 3000 oder 4000. Über 60 Prozent der Tafel-Helfenden haben gesagt, dass es physische und psychische Erschöpfungen mit sich bringt. Das sind Ehrenamtliche, die das in ihrer Freizeit machen.

Wie gehen Sie damit um, dass Sie immer weniger Lebensmittel und immer mehr Hilfesuchende haben?

Jochen Brühl: Wir verteilen anders. Wir versuchen, dass jede und jeder, der zu uns kommt, nicht ohne Lebensmittel gehen muss. Gleichzeitig bauen wir unsere Bemühungen aus, Lebensmittel auf anderen Wegen zu akquirieren, indem wir mit Großunternehmen sprechen, indem wir bereit sind, Großmengen abzunehmen, unsere Logistik auszubauen und zu verbessern. Für uns ist wichtig, dass wir auf der einen Seite Lebensmittelüberflüsse abbauen und auf der anderen Seite Menschen, die von Armut bedroht oder betroffen sind, unterstützen. Diese Dualität leben wir weiter. Wir sind sehr kreativ, was die Lebensmittel-Akquise betrifft.

Ihnen wird oft vorgeworfen, dass Sie Armut nicht selbst bekämpfen. Was entgegnen Sie?

Jochen Brühl: Da engagieren sich 60.000 Menschen für ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger. Da retten wir Lebensmittel, die wir sonst wegschmeißen würden. Wir halten der Gesellschaft den Spiegel vor, was schiefläuft. Da ist die Frage, wen kritisieren wir? Die, die uns den Spiegel vorhalten, oder eine Politik, die wegschaut, die Armut ignoriert? Ich glaube, dass unsere Sozialpolitik definitiv verändert werden muss.

Und was wünschen Sie sich von der Sozialpolitik?

Jochen Brühl: Meine Positionen sind sehr deutlich: Es geht um bedarfsgerechte Leistungen für Menschen, die von Armut bedroht oder betroffen sind. Es geht um Teilhabe, gerade auch in Familien, dass die Kinder die Chance haben, wie andere Kinder auch an Bildung teilzuhaben.

Es ist wichtig, dass wir die Thematik Frauen und Beruf, Familie und Beruf auf dem Schirm haben und dass Bildung nicht nur abhängig ist vom Einkommen der Eltern.

Es ist wichtig, dass wir als Gesellschaft, als Bürgerinnen und Bürger, die sich engagieren, der Politik sehr deutlich auf die Füße treten. Das Ausspielen derjenigen, die viel zu wenig haben, und derjenigen, die noch weniger haben, muss aufhören.

Es ist wichtig, dass wir eine sozial gerechte Gesellschaft anstreben, in der der Einzelne zählt und nicht das, was er an Einkommen hat. Mich erschreckt die Wahlbeteiligung unter armen Menschen. Wir müssen uns alle vor Augen führen, dass soziale Ungerechtigkeit zu einer Spaltung der Gesellschaft führen kann.

Podcast „In guter Gesellschaft“

Das ganze Interview mit dem Vorsitzenden der Tafel Deutschland, Jochen Brühl, hören Sie im neuen Podcast von VdK-Präsidentin Verena Bentele „In guter Gesellschaft“. Darin spricht Brühl ausführlicher über die Bedeutung der Tafeln in Deutschland und geht der Frage nach, warum immer mehr Menschen in Deutschland das Angebot der Tafeln nutzen.

In einer weiteren Podcast-Folge spricht Verena Bentele mit Fritz Fischer, einem der erfolgreichsten Biathleten in Deutschland. Der Bayer ist zweifacher Weltmeister und hat mit der Staffel Olympia gewonnen. In ihrem Gespräch unterhalten sich die beiden Spitzensportler über Fischers lange Karriere und sprechen über seine Mitgliedschaft beim Sozialverband VdK.

Die beiden neuen Folgen des Podcasts können Sie ab sofort hören:

Presse
Jochen Brühl, Vorsitzender Tafel Deutschland e.V.
Die Zahl der Menschen, die die Tafeln in Deutschland aufsuchen, hat sich im Jahr 2022 verdoppelt. Was bedeutet das für die Tafeln? Jochen Brühl erzählt im Gespräch mit VdK-Präsidentin Verena Bentele. | weiter
20.01.2023
Presse
Fritz Fischer
Als Schlussläufer der ersten gemeinsamen Biathlonstaffel nach der Wiedervereinigung sicherte Fritz Fischer 1992 dem deutschen Team Gold. Bis heute ist er dem Sport verbunden. VdK-Präsidentin Verena Bentele traf ihn beim Biathlon-Weltcup in Ruhpolding für ihren Podcast „In guter Gesellschaft“. Darin erzählt er aus seinem Sportlerleben und wie er VdK-Mitglied wurde. | weiter
23.01.2023

juf


SOZIALE GERECHTIGKEIT
Symbolfoto: Ehrenamtliche Helfer der Frankfurter Tafel sortieren von Supermaerkten gespendete Lebensmittel
Seit in der Ukraine gekämpft wird und in Deutschland die Preise steigen, ist die Zahl der Tafel-Nutzerinnen und -Nutzer stark gestiegen. Viele sehen die wachsende Bedeutung der Tafel kritisch. | weiter
13.02.2023

  • Sozialrecht
    Ob Rente, Gesundheit und Pflege, Teilhabe und Behinderung, Leben im Alter oder soziale Sicherung: Der Sozialverband VdK ist für seine Mitglieder ein kompetenter Ratgeber und Helfer in allen sozialrechtlichen Belangen. | weiter
  • Rente
    Der VdK will die Rente zukunftssicher machen und Altersarmut verhindern. Lesen Sie hier alles rund um die Themen Rente, Alterssicherung und unsere rentenpolitischen Forderungen. | weiter
  • Soziale Gerechtigkeit
    Rund 15,3 Millionen Menschen sind in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht - das ist fast jeder Fünfte! Der Sozialverband VdK kämpft für soziale Gerechtigkeit und setzt sich gegen die fortschreitende soziale Spaltung ein. | weiter
  • Behinderung
    Der VdK setzt sich für gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in allen Lebensbereichen ein. Lesen Sie mehr zu Inklusion, Behindertenpolitik und Barrierefreiheit. | weiter
  • Pflege
    Wir finden: Die Situation Pflegebedürftiger und Pflegender muss sich dringend verbessern. Lesen Sie hier mehr zum Thema Pflegepolitik, pflegende Angehörige, häusliche Pflege und Pflegeleistungen. | weiter
  • Gesundheit
    Wir brauchen ein Gesundheitssystem, das an den Bedarfen der Menschen ausgerichtet ist. Lesen Sie mehr zu Gesundheitspolitik, Prävention, Gesundheitsleistungen, Hilfsmitteln und Versorgung. | weiter
  • Frauen
    Frauen erhalten 49 Prozent weniger Einkommen und 53 Prozent weniger Rente als Männer. Der VdK setzt sich für mehr Gerechtigkeit für Frauen ein, kämpft für Gleichberechtigung und Gleichstellung. | weiter
  • Familie
    Wir brauchen Verlässlichkeit für Familien. Der VdK setzt sich unter anderem für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein, für familiengerechte Arbeitszeiten, den Ausbau der Kinderbetreuung und für ein Rückkehrrecht in Vollzeit. | weiter
  • Corona
    Aktuelle Maßnahmen, barrierefreie Texte und Videos sowie unsere Pressemitteilungen zum Thema. | weiter
  • Ukraine-Hilfe
    Auf dieser Seite haben wir Basis-Informationen für ukrainische Geflüchtete und Helfer zusammengestellt. Zu allen Informationen gibt es weiterführende Links. | weiter
    09.01.2023

Minijobs - Tickets in die Armut

Die sogenannten Minijobs sollten ursprünglich mal den Einstieg oder Wiedereinstieg ins Arbeitsleben erleichtern. Stattdessen sind sie zur Armutsfalle geworden.

Armut ist eine der größten sozialen Katastrophen im Land.

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Der VdK
Eine Frau gibt einer anderen Frau zur Begrüßung die Hand. Sie stehen am Eingang eines Gebäudes mit der Aufschrift "VdK Service Point"
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DER VdK
Symbolfoto: Zwei Frauen und ein Mann ziehen gemeinsam an einem Seil, an dessen Ende auch jemand zieht.
Wir machen uns stark für soziale Gerechtigkeit. Wir vertreten Ihre sozialpolitischen Interessen und kämpfen für Ihre Rechte. Unsere Stärke: Unabhängigkeit und Neutralität.

Presse
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