4. April 2022
SOZIALE GERECHTIGKEIT

Armut vergiftet die Psyche

Autor Olivier David beschreibt seine Kindheit am Rand der Gesellschaft – und wie er noch heute darunter leidet

Menschen, die arm sind, finden oft keinen Ausweg aus ihrer schwierigen Lebenslage. Viele von ihnen erkranken psychisch. Olivier David hat das selbst erlebt. Erst durch eine Therapie hat er verstanden, wie seine Kindheit in prekären Verhältnissen ihn krank gemacht hat.

Hände eines Erwachsenene klappen eine Geldbörse auf, darin sind 15 Euro. Daneben ein Kleinkind, das zum Erwachsenen aufblickt.
© IMAGO / photothek

Wenn Olivier David an seine Kindheit denkt, erinnert er sich an eine Szene, die ihn geprägt hat. Als er elf Jahre alt war, sah er seine Mutter weinend auf dem Küchenboden vor dem leeren Kühlschrank kauern. Sie wisse nicht, wovon sie einkaufen gehen soll, rief sie ihm entgegen. Dieses Bild hat sich in seinem Kopf festgesetzt.

Wer in Deutschland arm ist, steckt oft so wie David in einem Kreislauf fest. Kinder aus armen Familien schaffen es selten, sich als Erwachsene aus der Armut zu befreien. Ihre Kinder wachsen dann wiederum unter ähnlichen Bedingungen auf. Die Wahrscheinlichkeit für Menschen in der untersten Einkommensschicht, dieser auch nach fünf Jahren noch anzugehören, ist in den vergangenen 40 Jahren von 40 auf 70 Prozent gestiegen. Das geht aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Regierung 2021 hervor. Der soziale Aufstieg gelingt immer seltener.

Was das für Kinder und Jugendliche bedeutet, hat der 33-jährige David in einem Buch („Keine Aufstiegsgeschichte. Warum Armut psychisch krank macht“) aufgeschrieben. Es ist seine Geschichte, in der er erzählt, wie er aufwuchs.

Überfordert und einsam

Finanzielle Sorgen und Gewalt prägten seinen Alltag. Der Vater häufte mit misslungenen Geschäftsideen Schulden an und ließ die Familie sitzen, als David neun Jahre alt war. Die psychisch kranke Mutter war mit der Erziehung überfordert. Sie fand keine Arbeit und igelte sich zu Hause ein. „Meine Mutter wusste nicht, wie sie unsere Situation verändern kann. Sie zog gar nicht in Betracht, dass es für uns überhaupt Hilfsangebote gibt“, sagt David. Dennoch hat sie ihr Bestes versucht. Sie schickte ihn auf eine Waldorfschule, damit er eine gute Bildung genießt und es einmal besser hat.

Aber dort fühlte er sich unter Bildungsbürgerkindern als Außenseiter. Zu sich nach Hause lud er niemanden ein, weil er sich dafür schämte, wie seine Familie wohnte. Aus Ohnmacht und Scham entstanden Wut und Aggression. Als Heranwachsender trieb sich David oft auf der Straße herum, begann zu trinken, prügelte sich und rauschte schließlich durchs Fachabitur. Er finanzierte sich durch Gelegenheitsjobs, zog auf der Suche nach günstigen Wohnungen häufig um – aber kam nicht voran.

„Arme Menschen müssen aus wirtschaftlicher Not sehr oft kurzfristige Entscheidungen treffen“, sagt David. „Dadurch fehlt ihnen die Zeit, perspektivisch zu denken.“ Wer nicht viel hat, beschäftigt sich damit, über die Runden zu kommen. Die Gedanken kreisen immerzu um dieselben Probleme: Woher kommt das Geld für Miete, Essen, Kleidung? „Das bindet enorme Kapazitäten im Gehirn und bedeutet ständigen Stress.“

Olivier David hat 2019 mit einer Therapie begonnen, in der er sich intensiv mit seiner Vergangenheit beschäftigte. Neben einer Depression und einer posttraumatischen Belastungsstörung diagnostizierte der Arzt bei ihm auch ADHS. „Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem Überforderung und häusliche Gewalt eine Rolle spielten. Da ist so eine Diagnose nichts Seltenes“, sagt er.

Gestresst im Alltag

Die Ergebnisse einer Studie des Robert Koch-Instituts belegen, dass mehr als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen niedriger Statusgruppen unter psychischen Erkankungen leidet. Das trifft nur auf ein Fünftel der Heranwachsenden aus den mittleren und ein Zehntel der höheren Statusgruppen zu. „Bei armen Menschen kommen zum Alltag viele Stressfaktoren hinzu, die eine psychische Erkrankung begünstigen“, sagt David.

Dass es im reichen Deutschland so schwer ist, der Armut zu entkommen, macht ihn wütend. Es sei ein bisschen wie bei einem 100-Meter-Lauf, bei dem einige die ganze Strecke rennen müssen, während andere nur sechzig oder siebzig Meter zurücklegen müssen.

Olivier David ist dennoch losgelaufen. Seit einigen Monaten studiert der 33-Jährige Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Wegen seiner Erkrankung ist David weniger belastbar als andere, auch heute noch fühlt er sich oft fremd. Daran arbeitet er in den Therapiestunden. Es gibt noch viel zu besprechen.

Jörg Ciszewski

Buch:

Keine Aufstiegsgeschichte. Warum Armut psychisch krank macht.

Olivier David (Autor)
240 Seiten
ISBN 9783959103312
Eden Books
16,95 Euro

Schlagworte Armut | Ungleichheit | Olivier David | Autor | Buch

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