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Während das Vermögen in Deutschland weiter wächst, nimmt die Nachfrage an den Tafeln deutlich zu. Im Interview mit der VdK-Zeitung sieht Jochen Brühl, Vorsitzender des Dachverbands „Tafel Deutschland“, darin einen Beleg für die größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich.
VdK-Zeitung: Herr Brühl, wie hat sich in den vergangenen Jahren die Zahl der Menschen entwickelt, die zu den Tafeln gehen?
Jochen Brühl: Die Zahl der Menschen, die Hilfe bei den Tafeln finden, hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt. 2007 kamen 700.000 Menschen zu uns, aktuell sind es etwa 1,5 Millionen. Sorge macht mir, dass in Deutschland mittlerweile etwa jeder fünfte Mensch von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht ist. Betroffen sind etwa 16 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Das zeigt doch ganz eindeutig, dass der Handlungsdruck auf die Politik enorm sein müsste. Die Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, ist eine zentrale Aufgabe der Politik.
VdK-Zeitung: Gibt es denn inzwischen auch mehr Ausgabestellen?
Jochen Brühl: Mit dem zahlenmäßigen Anstieg der Tafeln wuchs natürlich auch die Zahl der Ausgabestellen. In Deutschland existieren momentan 940 Tafeln. Diese haben mehr als 2000 Ausgabestellen. Das ist auch etwa doppelt so viel wie 2007.
VdK-Zeitung: Deutschland geht es den Zahlen zufolge wirtschaftlich bestens – weniger Arbeitslose, steigende Löhne. Wieso hat die Nachfrage an den Tafeln so zugenommen?
Jochen Brühl: Nur weil ein Mensch Arbeit hat, bedeutet das nicht, dass er ein Auskommen hat oder im Alter haben wird. Die Frage ist: Bei wem kommt der anhaltende wirtschaftliche Aufschwung an? Sicher nicht bei den von Armut betroffenen Alleinerziehenden und kinderreichen Familien, Seniorinnen und Senioren sowie Menschen mit Migrationshintergrund, denn sie stellen die größten Gruppen bei den Tafeln. Trotz wirtschaftlichem Wachstum öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer stärker.
VdK-Zeitung: Wer kann zur Tafel gehen? Welche Voraussetzungen braucht man?
Jochen Brühl: Die Tafeln sammeln überschüssige Lebensmittel, die nach den gesetzlichen Bestimmungen noch verwertbar sind, und geben diese an Bedürftige ab – so lautet der erste Tafel-Grundsatz. Gemäß dieser Leitlinien können sich Menschen, die zum Beispiel Hartz IV beziehen, ein zu geringes Einkommen haben oder eine unzureichende Rente, was immer häufiger der Fall ist, an Tafeln wenden.
VdK-Zeitung: Wie sieht es mit den Ehrenamtlichen aus? Gibt es genügend Freiwillige für die Tafeln?
Jochen Brühl: Erfreulicherweise ist die Zahl der Freiwilligen ebenfalls stark gestiegen. Knapp 60.000 Ehrenamtliche packen regelmäßig mit an. In den nächsten Jahren werden viele Tafeln vor Ort einen Generationswechsel durchlaufen. Die Gründerinnen und Gründer sowie die Helferinnen und Helfer der ersten Stunde werden nach Jahren und zum Teil Jahrzehnten ihre Aufgabe an jüngere Menschen übergeben. Neue helfende Hände bei den Tafeln sind absolut willkommen.
VdK-Zeitung: Ist denn auch die Zahl der Lebensmittelspenden gestiegen, und reichen diese aus?
Jochen Brühl: Die Lebensmittelspenden steigen an, allerdings weitaus weniger stark als die Nachfrage. Die Tafeln verteilen jährlich 264.000 Tonnen Lebensmittel. Ob das reicht? Bei dieser Frage ist es wichtig zu verdeutlichen, dass die Aufgabe der Tafel eben nicht darin besteht, Vollversorger zu sein. Die Versorgung sozial benachteiligter Menschen ist einzig Aufgabe des Staates. Tafeln unterstützen mit dem, was sie zuvor gespendet bekommen haben. Auf unsere Angebote besteht kein Rechtsanspruch, denn wir geben freiwillig und unsere Arbeit wird getragen von den 60.000 Menschen, die sich ehrenamtlich zum Wohl anderer einsetzen.
VdK-Zeitung: Was müsste sich in Deutschland Ihrer Meinung nach ändern, damit die Zahl der Menschen, die zur Tafel gehen, wieder abnimmt?
Jochen Brühl: Deutschland muss endlich soziale Gerechtigkeit schaffen. Hier ist die Politik in der Pflicht. Gemeinsam mit anderen fordern wir, dass die Alterssicherung auf ein solides Fundament gestellt wird, damit Menschen die Sicherheit haben, nicht in Armut zu geraten. Regelsätze müssen angehoben werden, und ein besonderes Augenmerk liegt auf Verbesserungen der Lebensumstände und Perspektiven für Kinder und Jugendliche.
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Schlagworte Armut | Interview | Tafel | soziale Gerechtigkeit
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