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Die Wirkung der Pflegereform ist schnell verpufft, ist Gesundheitsökonom Professor Heinz Rothgang überzeugt
Rund 820 000 Menschen in Deutschland leben in einem Pflegeheim. Die Kosten für einen Heimplatz steigen. Derzeit liegt der Eigenanteil im Schnitt bei monatlich 2125 Euro, wobei 873 Euro auf die Pflege entfallen. Die Pflegereform soll die Pflegebedürftigen ab Anfang 2022 entlasten. Das ist notwendig, denn schon heute ist jede dritte Heimbewohnerin und jeder dritte Heimbewohner auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Doch wie sieht diese Entlastung aus? Die VdK-ZEITUNG sprach mit Professor Dr. Heinz Rothgang, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Bremen.
Wie erfolgreich ist die soziale Pflegeversicherung?
Als sie Mitte der 1990er-Jahre eingeführt wurde, waren deutschlandweit rund 80 Prozent der Heimbewohnerinnen und -bewohner auf Hilfe zur Pflege angewiesen. Durch die soziale Pflegeversicherung konnte dieser Anteil bis Anfang der 2000er-Jahre auf deutlich unter 30 Prozent reduziert werden. Der anschließende Anstieg wurde durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz nochmals auf 28 Prozent gedrückt. Seither steigt der Anteil der Menschen, die Hilfe zur Pflege beantragen, wieder an und wird in diesem Jahr voraussichtlich 35 Prozent erreichen.
Warum steigen die Eigenanteile in der stationären Pflege immer weiter?
Bei stationärer Pflege bestehen die Leistungen der Pflegeversicherung aus festen Zuschüssen, während die Heimentgelte permanent gestiegen sind und weiter steigen. Anfangs haben die Pflegeversicherungsleistungen in der Regel noch ausgereicht, um die pflegebedingten Kosten zu finanzieren. Derzeit liegen die Eigenanteile für Pflege inklusive Ausbildungskosten im Schnitt bei über 900 Euro. Wenn wir künftig – und das ist allgemeiner Konsens – mehr Pflegekräfte in den Einrichtungen beschäftigen und diese besser bezahlen, sind weitere erhebliche Steigerungen der Eigenanteile für die Pflege zu erwarten.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wollte in seiner Pflegereform ursprünglich die Pflegekosten deckeln. Das wurde aber wieder verworfen. Wie wirksam ist die jetzige Pflegereform?
Der ursprüngliche Vorschlag des Bundesgesundheitsministers hätte die Finanzierung wirklich vom Kopf auf die Füße gestellt, da der Eigenanteil fest begrenzt werden sollte, während Kostensteigerungen von der Pflegeversicherung übernommen worden wären. Leider ist davon im Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz nicht viel übrig geblieben. Den Pflegebedürftigen werden ab 2022 Leistungszuschüsse gewährt, wodurch die Eigenanteile bei den pflegebedingten Kosten reduziert werden. Im ersten Jahr sind das fünf Prozent, im zweiten Jahr 25 Prozent, im dritten Jahr 45 Prozent und danach 70 Prozent. Gleichzeitig wurden mehr Personal, stärkere Tarifbindung und der Einbezug bisher extern finanzierten Pflegepersonals in den Pflegesatz beschlossen. Werden alle Reformelemente berücksichtigt, stehen Heimbewohner, die bis zu zwei Jahre im Pflegeheim leben, schlechter da als vor der Reform. Für das erste Jahr liegt die durchschnittliche Mehrbelastung bei 280 Euro, für das zweite bei gut 100 Euro. Erst ab dem dritten Jahr werden Heimbewohnerinnen und -bewohner entlastet.
Der jetzt eingeschlagene Weg führt zu einer Verlangsamung des Anstiegs der Eigenanteile, nicht aber zu deren effektiven Begrenzung – ein wichtiger Unterschied. Steigen die pflegebedingten Heimkosten um 100 Euro, werden in Zukunft knapp 40 Euro von der Pflegeversicherung als Zuschlag übernommen, 60 Euro verbleiben aber beim Heimbewohnenden. In Modellrechnungen konnten wir zeigen, dass die pflegebedingten Eigenanteile nach einem Rückgang zu Beginn des Jahres 2022 kontinuierlich steigen werden und schon Ende 2023 wieder die derzeitigen Höhen erreicht haben. Die Reform führt daher nur zu einer zeitlich sehr begrenzten Entlastung, geht aber an einer wirklichen Lösung vorbei.
Wie müsste eine echte Pflegereform aus Ihrer Sicht gestaltet sein, um die Pflegebedürftigen langfristig zu entlasten?
Die einzige nachhaltige Lösung ist eine absolute Begrenzung der pflegebedingten Eigenanteile – ein Konzept, das wir unter dem Begriff „Sockel-Spitze-Tausch“ propagiert haben. Das bedeutet, dass die Pflegebedürftigen pro Monat nicht mehr als einen bestimmten Betrag zahlen müssen, und dass diese Zuzahlung auch nur für einen begrenzten Zeitraum erfolgt. In seinem Vorschlag vom letzten Herbst hat Jens Spahn diesen Betrag auf 700 Euro und die Dauer auf 36 Monate beziffert. Ich kann nur hoffen, dass dieser sinnvolle Vorschlag in der nächsten Legislaturperiode wieder aufgegriffen und, unabhängig von der Zusammensetzung der nächsten Regierung, schon im Koalitionsvertrag verankert wird.
Wie stehen Sie zu der vom Sozialverband VdK geforderten Pflegevollversicherung?
Auch bei diesem Vorschlag handelt es sich um einen Sockel-Spitze-Tausch, allerdings mit dem Sockel Null. Das mag heute radikal klingen, tatsächlich entspricht der VdK-Vorschlag aber genau den Plänen, die Norbert Blüm bei Einführung der Pflegeversicherung hatte und die sich so auch in der Gesetzesbegründung des Pflege-Versicherungsgesetzes finden. Die Versicherungsleistungen sollten ursprünglich nämlich ausreichen, um die pflegebedingten Heimkosten zu finanzieren. Der Begriff des „Teilleistungssystems“ verweist ausschließlich darauf, dass die Kosten für Unterkunft und Verpflegung von den Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern zu zahlen sind.
Was halten Sie von der Einführung einer privaten Versicherungspflicht?
Ich wünsche mir, dass ein möglichst großer Teil der Pflegekosten solidarisch über die Sozialversicherung finanziert wird, weil damit – anders als bei der Privatversicherung – auch ein Element der Umverteilung enthalten ist, das wir dringend brauchen, um ein weiteres Anwachsen der Einkommens- und Vermögensungleichheit zu verhindern. Tatsächlich gibt es bereits eine staatlich geförderte private Zusatzversicherung, den Pflege-Bahr. Vor acht Jahren vom damaligen Gesundheitsminister Daniel Bahr eingeführt, hat er sich als großer Flop erwiesen. Solche Systeme – das zeigt auch die Riester-Rente – sind zur sozialen Absicherung der gesamten Bevölkerung ungeeignet. Nach einem Sockel-Spitze-Tausch mit einem Sockel oberhalb von Null könnten Privatversicherungen dagegen eine ergänzende Funktion wahrnehmen, indem genau dieser Sockelbetrag versichert wird.
Interview: Annette Liebmann
Schlagworte Pflegereform | Pflegekosten | Pflegevollversicherung | Heimbewohner
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