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Regina Vollbrecht ist Beauftragte für Menschen mit Behinderungen in Reinickendorf. Im Interview sprachen wir mit ihr darüber, wie sehbehinderten und blinden Menschen angemessen Hilfe angeboten werden kann, ohne diese aufzudrängen und wie eine inklusivere Gesellschaft aussehen kann.
Ich setze mich für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ein und verstehe mich als Lotsin: Wenn jemand eine Frage hat, weiß ich vielleicht nicht immer die Antwort. Aber ich finde heraus, wer der Ansprechpartner ist. Mich reizt vor allem die Vielfalt. Ich organisiere Veranstaltungen, berate Menschen mit Behinderungen, bin in Bauprojekte involviert, aber auch in andere Projekte der bezirklichen Teilhabe.
Das Wichtigste ist immer, die Situation zu beobachten und natürlich gerne Hilfe anzubieten, aber neutral. Wenn jemand sagt: „Geben Sie bitte her, ich mache das für Sie“, dann ist das nicht neutral. Man sollte bei solchen Hilfsangeboten nie signalisieren, dass derjenige das nicht kann. Einfach fragen: „Kann ich Ihnen helfen?“ Dann wird die Person sagen: „Ja, gerne“ oder „Nein, vielen Dank, ich mache das selbst“. Und wenn sie ablehnt, ist es wichtig, dass man das akzeptiert. Man darf auch nicht die Vorstellung haben, ich biete jetzt Hilfe an und diese muss angenommen werden.
Das ist quasi mein Alltag. Ein Erlebnis war: Mein Partner und ich haben ein Haus mit Garten, wir sind beide blind, und wir haben 7,5 Tonnen Erde für Hochbeete geliefert bekommen. Um die Erde von unserem Gartentor zum Hochbeet zu bringen, wollten wir sie nicht mit einer Schaufel in die Schubkarre schippen. Wir müssen fühlen, wo sie steht, damit wir die Erde nicht daneben kippen. Stattdessen füllten wir die Erde mit einer kleinen Schaufel und unseren Händen in einen Eimer und den Inhalt in die Schubkarre.
Am ersten Tag wurde mein Partner von einem Nachbarn angesprochen, ob er Hilfe brauche. Er meinte „nein, vielen Dank“ und erklärte ihm die Situation. Am nächsten Tag bot mir dieser Nachbar seine Hilfe an. Ich lehnte dankend ab. Er sagte dann: „Das verstehe ich nicht, wenn man Hilfe anbietet, dann nimmt man sie doch auch an.“ Daraufhin erzählte er ein Beispiel, dass seine Mutter etwas alleine machen wollte und sich dabei den Finger brach. Da habe ich gesagt: „Sehen Sie, man hat auch das Recht sich den Finger zu brechen.“
Das klingt jetzt vielleicht etwas hart, aber jeder Mensch mit Behinderungen muss entscheiden können und das dann auch selbstbestimmt tun dürfen. Bei dem Ansatz: Nein, ich mache das jetzt für dich, ich kann das besser oder schneller, ist das bevormundend und somit verletzend. Ein weiterer Nachbar kam an dem Tag an: „Das kann ich mir gar nicht angucken, wie sie hier arbeiten.“ Daraufhin sagte ich nur: „Dann gucken Sie weg.“ Ich habe mir die Arbeit ausgesucht und sie hat mir Spaß bereitet. Später sprach uns noch jemand an und sagte: „Ich verstehe, dass Ihr das allein machen wollt. Ihr seid stolz, wenn ihr es geschafft habt.“ Sie hatte es verstanden.
Auch wenn es für den anderen beschwerlicher aussieht, weil der Sehende erst einmal nur seine Methoden kennt. Wir müssen viele Dinge anders organisieren und haben so eine effektive Möglichkeit gefunden, mit den Eimern sehr schnell die 7,5 Tonnen Erde in die Hochbeete zu schaffen.
Das hängt immer von der Situation ab. Wenn ich zum Beispiel an einer vielbefahrenen Straße stehe und die blindengerechte Ampel ist gerade defekt, sie gibt kein Signal mehr bei Grün, dann bin ich schon froh, wenn mir jemand Hilfe anbietet. Da erkennt man, der blinde Mensch steht an der Straße und möchte rüber und dann kann der Bürger fragen: „Kann ich Ihnen helfen?“ oder sagen: „Es ist grün.“
Wir waren auf einer Wanderung, haben in unserem Hotel eingecheckt und wenn ich Hotels buche, sage ich nie, dass wir blind sind. Die Leute machen sich sonst viel zu viele Gedanken. Wir bekommen zum Beispiel ein Zimmer im Erdgeschoss, weil sie glauben, wir können keine Treppen steigen und das ist ja nicht so. Da ist einfach viel Unwissenheit in dem Bereich. Aber für uns ist es sehr anstrengend immer wieder diese Vorurteile zu spüren. Beim Einchecken wurden wir gefragt: „Wie können wir Ihnen helfen?“, „Ja es wäre super, wenn Sie uns das Zimmer zeigen.“ Das brauchen wir tatsächlich, denn in den meisten Hotels sind die Zimmertüren nicht mit Brailleschrift versehen. Aber dann fragte uns die Rezeptionistin: „Kommen Sie denn überhaupt alleine in Ihrem Zimmer zurecht?“ „Natürlich, wir sind auch allein hierher gewandert und zu Hause kommen wir ja auch zurecht.“ Die Leute dürfen mich auch nach meinem Leben fragen, das ist ja gar kein Problem, aber nicht, wenn der Vorwurf mitschwingt, dass ich dieses oder jenes nicht kann. So zum Beispiel: „Sie arbeiten doch sowieso nicht.“ Wie, ich arbeite nicht? Warum sagt man das? Weil sich so manch einer nicht vorstellen kann, dass wir blinden Menschen auch berufstätig sind.
Barrierefreiheit und Inklusion sind wichtige Ziele, die von der Gesellschaft mitgetragen werden sollten.
Barrierefreiheit und Inklusion sind große Themen. Sie müssen von Anfang an mitgedacht, geplant und umgesetzt werden. Es ist wichtig, Menschen mit Behinderungen rechtzeitig zu beteiligen. Für das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen, ist Bewusstsein zu schaffen, indem das Thema in der Schule behandelt, Filme dazu gezeigt und Bücher in Form von Lebensgeschichten gelesen werden. Nur so kann es selbstverständlicher werden, was Menschen mit Behinderungen können und wie wir leben.
Nur wenn die Gesellschaft Zutrauen in unsere Fähigkeiten hat, haben Menschen mit Behinderungen die Chance zur Teilhabe.
Das Interview führte Lea Hanke
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