27. April 2022

„Oft kullern bei pflegenden Angehörigen erstmal die Tränen“

Bei der Pflege in Deutschland hakt es gewaltig. Pflegebedürftige leiden unter steigenden Kosten, bürokratische Hürden erschweren die Inanspruchnahme von Leistungen und viele pflegende Angehörige bräuchten dringend Entlastung. Viel zu tun für die amtierende Bundesregierung.

Über die Pläne der Ampelkoalitionäre hat Elisa Kastner mit Ariane Rausch, Leiterin des VdK-Pflegestützpunkts Tempelhof-Schöneberg, gesprochen.

Ariane Rausch (erste von links) und ihr Team bieten im VdK-Pflegestützpunkt Tempelhof-Schöneberg umfassende und unentgeltliche Beratung rund ums Thema Alter und Pflege. | © VdK Berlin-Brandenburg

Die Ampelkoalition verspricht für die Pflege viel: "Alle Menschen in Deutschland sollen gut versorgt und gepflegt werden – in der Stadt und auf dem Land", heißt es dazu im Koalitionsvertrag. Wie ist Ihre Einschätzung?

Grundsätzlich beinhaltet der Koalitionsvertrag viele wichtige Schritte in die richtige Richtung. Allerdings sind viele Vorhaben sehr vage formuliert. Und ich vermisse klare zeitliche Vorgaben. Eine Wahlperiode ist lang, Pflegebedürftige, Angehörige und Pflegekräfte brauchen aber jetzt mehr Unterstützung und Entlastung.

Sie sprechen von Schritten in die richtige Richtung. Welche gesetzlichen Vorhaben meinen Sie konkret?

Schauen wir uns zunächst mal den Bereich der stationären Pflege an: Hier sollen die Eigenanteile begrenzt und planbar gemacht werden, indem zum Beispiel die Ausbildungskostenumlage aus den Eigenanteilen herausgenommen werden. Darüber hinaus soll die Behandlungspflege in der stationären Versorgung der gesetzlichen Krankenversicherung übertragen und pauschal ausgeglichen werden. Im Endeffekt werden somit Heimbewohnerinnen und -bewohner entlastet, da sie weniger aus eigener Tasche bezahlen müssen und die Kosten für den stationären Pflegebereich werden auf sehr viel mehr Schultern verteilt. Auch innerhalb der Pflegeversicherung stellt der Koalitionsvertrag finanzielle Entlastung in Aussicht: Hier sollen versicherungsfremde Leistungen wie die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige aus Steuermitteln bezahlt werden.

Die Koalition verspricht außerdem den bedarfsgerechten Ausbau der Tages- und Nachtpflege sowie insbesondere bei der reinen Kurzzeitpflege zu unterstützen. Klingt erstmal nach einem richtigen Ansatz, oder?

Absolut. Gerade die Kurzzeitpflege bietet zur Entlastung von Angehörigen eine tolle Möglichkeit. Man muss sich die Kurzzeitpflege wie eine Art „Krankenwohnung“ vorstellen, also eine Einrichtung mit Pflegepersonal und rund-um-die-Uhr-Betreuung. Möchten Angehörige zum Beispiel in den Urlaub fahren, können sie ihre Pflegebedürftigen für eine gewisse Zeit hier unterbringen. In dieser Flexibilität liegt allerdings auch die große Schwierigkeit. Viele Träger gehen das finanzielle Risiko erst gar nicht ein, denn die Kurzeitpflege ist schlecht planbar: Personal muss vorgehalten und bezahlt werden ohne zu wissen, wie sich der Bedarf entwickelt. Wir plädieren daher dafür, in stationären Einrichtungen vermehrt Kurzzeitpflegeplätze vorzuhalten und so auch finanzielle Einbußen zu minimieren. Welche Lösungen die politischen Entscheidungsträger hier anbieten, bleibt abzuwarten.

Sprechen wir über die nackten Zahlen. Mit welchem Betrag sollen pflegende Angehörige zukünftig unterstützt werden?

Da sind wir beim sogenannten Entlastungsbudget. Dieses Budget umfasst für pflegende Angehörige jährlich 3386 Euro und soll die häusliche Pflege stärken, aber auch Familien von Kindern mit Behinderung mit einbeziehen. Das Geld kommt aus den bisherigen Beiträgen der Kurzzeit- und der Verhinderungspflege. Das hört sich jetzt erstmal furchtbar sperrig an, soll aber im Endeffekt den Bürokratiedschungel lichten. Nehmen wir einmal an, eine Nachbarin übernimmt kurzfristig die Nachtpflege für einen Demenzerkrankten, um die pflegende Tochter zu entlasten. Ein klassischer Fall von Verhinderungspflege. Diese Leistungen werden dann künftig bei der Pflegekasse über das Entlastungsbudget abgerechnet. Ein großes Fragezeichen gibt es dabei allerdings bei der geforderten Nachweispflicht – wie diese im Einzelfall aussehen soll und wie aufwendig diese Nachweispflicht ist, kann ich noch nicht abschätzen.

Was fordern Sie außerdem von der Politik, um die Situation von pflegenden Angehörigen zu verbessern?

Ein großes Dilemma ist natürlich der Spagat zwischen Erwerbstätigkeit und Pflege. Im Schnitt beträgt die häusliche Pflege eines Angehörigen in Deutschland acht Jahre. Wenn Angehörige in dieser Zeit weniger arbeiten können, hat das zum Beispiel auch Auswirkungen auf ihre spätere Rentenhöhe. Wir fordern daher eine echte Lohnersatzleistung für pflegende Angehörige, analog zum Elterngeld.

Die Pflege von Angehörigen kann sehr belastend sein. Welche Rückmeldungen erhalten Sie von pflegenden Angehörigen besonders häufig?

Bei unseren ersten Beratungsterminen kullern bei vielen Angehörigen oft die Tränen. Häusliche Pflege bedeutet eine permanente psychische und physische Kraftanstrengung, gleichzeitig wird das eigene Leben zurückgestellt. Daher ist es ganz wichtig, dass sich die Angehörigen immer wieder Zeit für sich nehmen, ihre Batterien aufladen, um dann auch die schönen Momente mit ihren Pflegebedürftigen genießen zu können. Eine wirkliche Entlastung kann hier beispielsweise die regelmäßige Unterbringung des Pflegebedürftigen in einer Tagespflege bringen.

Wer kann sich an den Pflegestützpunkt wenden? Wie helfen Sie sonst?

Fragen zu Leistungsansprüchen und Problemen in der häuslichen Pflege beantworten wir für ganz Berlin. Speziell für Tempelhof-Schöneberg bündeln und koordinieren wir Hilfs- und Beratungsangebote zum Thema Pflege und vermitteln den Ratsuchenden wohnortnahe Dienstleister im Bereich Pflege. Ganz wichtig dabei: Wir beraten unabhängig von einem Pflegegrad, denn auch im Vorfeld zur stationären oder ambulanten Pflege gibt es viel zu tun, zum Beispiel bei der Wohnungsanpassung. Und wir helfen allen Berlinerinnen und Berlinern bei der Erstellung von Vorsorgevollmachten oder Patientenverfügungen. Kurzum, wir versuchen allen Ratsuchenden Hilfe im Pflegedschungel zu geben.

VdK-Pflegestützpunkt Tempelhof-Schöneberg Ottokarstraße 1, 12105 Berlin
Telefon: 030 / 75 50 70 -3
E-Mail: pflegestuetzpunkt.berlin@vdk.de

Bitte beachten Sie: Persönliche Beratungen finden nur nach telefonischer Terminvereinbarung statt.

Elisa Kastner

Schlagworte Pflege | Pflegestützpunkt | Pflegestützpunkt Tempelhof-Schöneberg

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