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Hat das Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderung Verbesserungen gebracht? Fünf Jahre nach seiner Einführung zogen Betroffene sowie Expertinnen und Experten in einer Online-Diskussion der Friedrich-Ebert-Stiftung Bayern Bilanz. Unter den Teilnehmenden war auch VdK-Landesvorsitzende Ulrike Mascher.
Für Menschen mit Behinderung und Eltern von Kindern mit Behinderung war die Entstehungsphase des Bundesteilhabegesetzes (kurz BTHG) mit großen Hoffnungen verbunden gewesen. Denn sie hatten sich von den geplanten Änderungen erwartet, dass endlich ein gerechtes Teilhabegesetz für alle eingeführt wird. Doch als sich das BTHG lediglich als „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in der Eingliederungshilfe“ herausstellte, war die Enttäuschung groß.
Unter lautstarken Protesten trat das Gesetz am 1. Januar 2017 in Kraft. Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung wurde aus dem Sozialhilferecht herausgelöst und in das Neunte Buch des Sozialgesetzbuchs übertragen. Die Änderungen treten stufenweise in Kraft. Die letzte Reformstufe wird bis Januar 2023 umgesetzt.
Das Gesetzespaket soll mehr Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung schaffen. Doch davon ist im Alltag noch wenig zu spüren. Darin war sich die fünfköpfige Runde, darunter VdK-Landesvorsitzende Ulrike Mascher, einig. BR-Moderatorin Eva Huber bat die Podiumsgäste um ihre Einschätzung: Was ist das Beste, das aus dem BTHG hervorgegangen ist?
Sibylle Brandt, Landesvorsitzende der AG Selbst Aktiv Bayern, empfand es als große Verbesserung, dass es nicht mehr verschiedene Ansprechpartner für Menschen mit Behinderung gibt, wenn sie einen Antrag auf Eingliederungshilfe stellen. Ulrike Mascher warf ein: „Das heißt jedoch nicht, dass das automatisch funktioniert. Ob Hörgerät oder Reittherapie – in unseren Sozialrechtsberatungen merken wir, dass immer noch um einzelne Leistungen gekämpft wird.“
Begrüßt wurde zudem von allen die Einführung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB). Die Beraterinnen und Berater, die ebenfalls von einer Behinderung betroffen sind, betonen, dass sie die Probleme derer, die zu ihnen kommen, kennen.
Stephan Neumann von der AG Selbst Aktiv Brandenburg empfindet das Gesetz als ein „Bürokratiemonster“: „Schon allein die Anträge – das ist ja komplizierter, als Sozialhilfe zu beantragen. Und wenn ich noch eine Beeinträchtigung habe, verstehe ich die Formulare nicht. Die Verwaltung muss verständliche Vordrucke erstellen.“
Die drei Vertreterinnen und Vertreter der Behindertenverbände bemängelten zudem, dass es kein bundeseinheitliches Antragsformular gibt, wenn man ein bestimmtes Hilfsmittel benötigt. Daran schloss sich ein weiterer Kritikpunkt an, der bayerische Antragstellerinnen und -steller betrifft: Der Antrag ist im Freistaat noch nicht in Leichter Sprache erhältlich, in anderen Bundesländern hingegen schon.
Mascher kritisierte außerdem, dass Assistenzen nicht angemessen bezahlt werden. Überhaupt sei es schwierig, Assistenzen zu finden, insbesondere bei Bedarf einer 24-Stunden-Assistenz. Die Stundenlöhne, die gezahlt werden, sind aus Sicht des VdK viel zu niedrig. So bezahlt der Bezirk Oberbayern einer Assistenz nur 13 Euro pro Stunde. „Wir fordern einen deutlich höheren Stundenlohn, um mehr Menschen für den spannenden Job als Assistenz gewinnen zu können“, sagte Mascher.
Thomas Bannasch von der LAG Selbsthilfe ist überzeugt, dass das Teilhabegesetz großes Potenzial hat. Doch um Bilanz zu ziehen, sei es aufgrund der stufenweisen Einführung der Änderungen noch zu früh. „Wir haben in Bayern in vielen Bereichen noch keine Erfahrungen gesammelt. Das meiste ist noch nicht im Echt-Betrieb.“ Es ist ein Prozess, der schon viele Jahre dauert. „Ich wünschte mir, dass wir schon weiter wären.“
Landtagsabgeordnete Ruth Waldmann von der SPD räumte ein, dass es Verzögerungen durch die Corona-Pandemie gab. „Eigentlich sollte die Erprobungs- und Qualifizierungsphase schon weiter vorangeschritten sein. Wir werden dranbleiben“, versprach sie. Sie ist dankbar für ein solches Online-Forum: „Wenn ich wissen will, wie es wirklich steht, muss ich mit Menschen mit Behinderung sprechen. Ich bin hier, um mehr von Ihnen zu erfahren.“
Es eröffnete sich eine lebhafte Gesprächsrunde mit Interessierten und Betroffenen. In großen Teilen der Diskussion ging es um die Rolle der bayerischen Bezirke, die aus Sicht von Menschen mit Behinderung verantwortlich für viele Defizite sind. So sehen Betroffene die Gefahr, dass Entscheidungen nach Kassenlage getroffen werden.
Münchens Behindertenbeauftragter Oswald Utz meldete sich ebenfalls zu Wort. „Ich glaube schon, dass Politikerinnen und Politiker mit dem Teilhabegesetz etwas Gutes bewirken wollten.“ Gleichzeitig bedauerte er, dass noch keine bessere Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt erreicht worden ist: „Die wenigsten Menschen mit Behinderung in München haben eine Chance, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unterzukommen.“
Gleiches gilt für den freien Wohnungsmarkt. Der Behindertenbeauftragte ist immer wieder bestürzt, wenn ihm Eltern von Kindern mit Behinderung erzählen, dass sie irgendwann aufgeben, weil sie jedes Jahr den gleichen Kampf kämpfen, damit ihr Kind eine Regelschule besuchen kann. „Am Ende sind sie froh, dass es wenigstens bei den Werkstätten auch behindertengerechte Wohneinrichtungen gibt“, sagte Oswald Utz.
Elisabeth Antritter
Schlagworte Bundesteilhabegesetz | Bilanz | Menschen mit Behinderung | Teilhabe | Inklusion | Assistenz
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