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Wie hat sich 1968 auf unsere Gesellschaft ausgewirkt, und was ist heute davon geblieben? Der Münchner Soziologe Prof. Dr. Armin Nassehi hat zu diesem Thema gerade das Buch „Gab es 1968? Eine Spurensuche“ veröffentlicht. Die VdK-Zeitung sprach mit ihm.
Was meinen wir, wenn wir von 1968 sprechen? Ein Jahr,
eine Bewegung oder einen Zeitgeist?
Prof. Dr. Armin Nassehi: Das ist in der Tat eine gute Frage. Wir
reden von einem Jahr, in dem vieles stattgefunden hat: der Prager
Fühling, die Ermordung von Robert Kennedy und Martin Luther King
und in Deutschland die Studentenbewegung. Das alles sind kurze
Ereignisse, die für einen grundlegenden politischen Wandel stehen.
Dieser Umbruch hat sich aber schon lange zuvor angebahnt, etwa mit
der Bildungsexpansion der späten 1950er-Jahre. Und er hat lange
nachgewirkt. Bis Ende der 1970er-Jahre war die Gesellschaft stark
von 1968 geprägt.
Zur Studentenbewegung gehörten nur wenige Menschen. Wie
konnte sie dennoch eine solche Bedeutung und eine solche
Medienpräsenz bekommen?
Mit dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration im
Juni 1967 gerieten die Studentenproteste in das Licht der
Öffentlichkeit. Die Bilder von damals sind den Menschen im
Gedächtnis geblieben. Es gab viele sichtbare Aktionen, etwa
Demonstrationen, öffentliche Diskussionen in Universitäten oder
Auftritte des Studentenführers Rudi Dutschke. In Deutschland waren
es nur Studenten, die auf die Straße gingen. Die gab es in den USA
zwar auch, aber die Bewegung war viel größer und umfasste vor allem
die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung. In Frankreich hatten
sich die Gewerkschaften den Studentenprotesten angeschlossen.
Blicken wir auf heute: Was ist von 1968 übrig
geblieben?
In meinem gerade erschienenen Buch unterscheide ich zwei
Strömungen: einerseits eine explizit linke Bewegung bis hin zur
totalen Systemkritik. Diese war bereits 1970 zu Ende, als sich der
Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) aufgelöst hatte. Danach
wanderte diese Bewegung in die Subkultur ab. Andererseits wirkte
die Studentenbewegung tief in die Gesellschaft hinein. Das
bezeichne ich als implizit linke Bewegung. Es folgte eine
Inklusionspolitik mit dem Willen, in der Gesellschaft Gleichheit
herzustellen. Man glaubte an den sozialen Aufstieg. Schulen und
Universitäten wurden erweitert, um auch Menschen aus
benachteiligten Bevölkerungsschichten an Bildung teilhaben zu
lassen. Heute ist das selbstverständlich. Während damals nur etwa
sieben Prozent aller Schüler Abitur machten, sind es mittlerweile
mehr als die Hälfte. 1968 hat außerdem zu einer
Sozialpädagogisierung der Gesellschaft geführt. Man glaubte, alle
und alles therapieren zu müssen. Auch die Geschlechterrollen haben
sich verändert. Der Dialog zwischen den Generationen ist offener
geworden. Auf diese Aufbruchstimmung folgte allerdings
Ernüchterung. Man stellte fest, dass die Strukturen in der
Gesellschaft hartnäckiger sind als erwartet.
Warum war die Studentenrevolte so wichtig für die
Gesellschaft?
Sie hat zu neuen Fragen und Denkweisen geführt. Da wäre
beispielsweise die Dauerreflexion: Seit dieser Zeit kann man nichts
mehr unreflektiert lassen – nicht einmal den Glauben an Gott. In
den 1970er-Jahren hat das geradezu zu einem „Kritik-Fetisch“
geführt: Alles musste durch das Fegefeuer der Kritik gehen. 1968
hat in den Folgejahren eine Menge verändert: Das Scheidungsrecht
wurde reformiert, die Rechte der Frauen wurden gestärkt, die Ärzte
sprechen auf Augenhöhe mit den Patienten – kurz und gut: Die
gesamte Gesellschaft wurde sozialdemokratisiert.
Heute wenden sich viele Menschen wieder autoritären
Werten zu. Warum?
Es geht wieder stärker um Zugehörigkeit, um Identität und Heimat.
Die globalisierte Gesellschaft ist komplex und nur schwer zu
verstehen. Deshalb neigen viele Menschen dazu, nach einfachen
Antworten zu suchen. Zum Beispiel „America first“. Oder nationale
Lösungen für ein globales Problem wie etwa die Flüchtlingsfrage.
Auch die Wissenschaftskritik nimmt zu – man glaubt lieber den
sogenannten „Fake News“ und zieht wissenschaftliche Erkenntnisse in
Zweifel. Die Menschen suchen nach Orientierung in einer komplexen
Welt. Dabei helfen ihnen die ethnische Zugehörigkeit und die
Geschlechterrolle.
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Interview: Annette Liebmann
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