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Erweiterte Begleitmesse mit 55 Ausstellern
„Die Nichterfüllung der gesetzlichen Beschäftigungspflicht bei Menschen mit Behinderung ist nicht hinnehmbar“, war einhellige Meinung der Podiumsteilnehmer der 15. VdK-Landesschulung für Behinderten- und Personalvertreter am 5. Juli 2017 in der Harmonie Heilbronn. Dort beleuchteten sechs hochkarätige Referenten die verschiedenen Facetten des diesjährigen Seminarthemas „Die Schwerbehindertenvertretung im betrieblichen Alltag heute und morgen“. Vor 550 Teilnehmern forderten die Arbeits- und Sozialexperten gezielte Maßnahmen, um einerseits die Pflichtquote von fünf Prozent zu erfüllen und um andererseits der demografischen Entwicklung im Arbeitsleben mit vielen älteren Beschäftigten Rechnung zu tragen.
An die Landesverwaltung, die – trotz freiwilliger Selbstverpflichtung, mehr als die gesetzlich geforderten fünf Prozent Schwerbehinderte zu beschäftigen – 2016 nur auf 4,89 Prozent kam, erging der Appell, der Vorbildfunktion des öffentliches Dienstes nachzukommen. Der Landesgeschäftsführer des Sozialverbands VdK Baden-Württemberg, Hans-Josef Hotz, rief die Arbeitgeberseite hier generell zum Umdenken auf und verlangte, überkommene Vorbehalte gegenüber behinderten Beschäftigten abzulegen. Ebenso unterstützte er die von Podiumsteilnehmern vorgebrachte Forderung nach Anhebung der Ausgleichsabgabe für Arbeitgeber, die nie Menschen mit Behinderung beschäftigen. Außerdem verlangte Hotz, der häufigen Praxis, die Ausgleichsabgabe als Betriebsausgabe abzusetzen, einen gesetzlichen Riegel vorzuschieben. Zugleich bedauerte er, dass Sozial- und Integrationsminister Manfred Lucha in seinem Vortrag nicht auf die zurzeit schlechte Behindertenbeschäftigungsquote in der Landesverwaltung eingegangen war.
Minister Lucha hatte aber über die auch bei den Schwerbehinderten im Land zurückgegangene Arbeitslosenquote informiert und als Grund hierfür auch ein Umdenken bei Unternehmern und Personalverantwortlichen ausgemacht. Gleichwohl sei die Einstellung von Menschen mit Behinderung kein Selbstläufer. Ohne das Engagement der Behindertenvertreter und Obleute gäbe es sie nicht. Manfred Lucha hatte sodann über die Maßnahmen des Landes zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) informiert. Er lobte in diesem Zusammenhang die gute Arbeit der Betroffenenverbände, denn ohne „Kümmerer“ könne Inklusion nicht gelingen. Zugleich stellte er klar, dass es Aufgabe der Politik sei, die für die Inklusion erforderlichen guten Rahmenbedingungen zu schaffen. Die in Baden-Württemberg geltende gesetzliche Pflicht, kommunale Behindertenbeauftragte zu berufen, sei hier ein wichtiger Schritt. Der Sozial- und Integrationsminister erinnerte daran, dass es nach der UN-BRK Pflicht ist, das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen zu stärken, weshalb die anvisierten Maßnahmen in Baden-Württemberg auch auf gemeindenahes Arbeiten und Wohnen abzielten.
An die weit über 500 anwesenden Behindertenvertrauensleute, Betriebs- und Personalräte, die aus ganz Baden-Württemberg und benachbarten Bundesländern angereist waren, erging seitens der versammelten Experten der Rat, sich auch weiterhin für bessere Arbeitsbedingungen von Menschen mit Behinderung und für alternsgerechte Arbeitsplätze einzusetzen sowie auf betriebliche Gesundheitsförderung zu drängen. Gerade auch in Zeiten von „Arbeit 4.0“ mit zunehmender Digitalisierung und möglichem Arbeitsplatzverlust in vielen Branchen, gelte es, die Chancen auf Arbeit und auf gesunde Arbeit zu erhalten.
Professor Dr. Bernhard Badura von der Universität Bielefeld verwies in seinem Referat auf die stark zugenommene Arbeitsunfähigkeit durch psychische Erkrankungen. Heute sei fast jede zweite Frühverrentung die Folge seelischen Leids. Den arbeitsbedingten psychischen Belastungen komme eine hohe Bedeutung für das Gesundheits- und Krankheitsgeschehen zu. Müdigkeit und Erschöpfung, Schlafstörungen ebenso Rückenschmerzen seien heute weit verbreitete Beeinträchtigungen in der Erwerbsbevölkerung, sagte Professor Badura mit Blick auf den Arbeitszeitreport Deutschland von 2016. Dass, im internationalen Vergleich, in Deutschland Beschäftigte ihre Beziehungen zum direkten Vorgesetzten schlechter bewerten würden als Arbeitnehmer in anderen Ländern – was diversen Studien zeigten – kommentierte Professor Badura mit den Worten: „Wir haben in Deutschland ein Führungsproblem, zu viel Hierarchie, zu viel Kontrolle“. Beschäftigte hätten häufig keinen Einfluss auf die Arbeit. Das sei psychisch belastend. Als einen Gradmesser für psychische Gesundheit sieht der Berater von Weltgesundheitsorganisation (WHO), Europäischer Union (EU) und weiterer Stellen das „gute Bauchgefühl auf dem Weg zur Arbeit und von der Arbeit nach Hause“. Denn: „Arbeit muss man gern machen.“ Und Arbeit ohne emotionale Bindung oder gar gegen die eigenen Überzeugungen, Werte und Gefühle sei ein bedeutsamer Risikofaktor für Gesundheit und Energieeinsatz, ist Professor Badura überzeugt. Die Forschung zeige auch, dass von der Organisationskultur im Unternehmen die stärkste Bindungskraft ausgehe. Demgegenüber beeinträchtigte eine „Kultur der Angst und des Misstrauens“ Gesundheit und Arbeitsverhalten der Beschäftigten. Gerade die „Kultur der Angst“ sei weit verbreitet, auch in Organisationen und Einrichtungen mit eigentlich sicheren Arbeitsplätzen, beklagte Professor Dr. Bernhard Badura.
Für die stellvertretende Verdi-Landesbezirksleiterin Susanne Wenz ist die Teilhabe von ganz elementarer Bedeutung für die Menschen mit Behinderung. Denn es gelte hier, alle Möglichkeiten des Lebens einschließlich der Arbeit auszuschöpfen. Wenz, die im Sozialverband VdK ehrenamtlich als stellvertretende Kreisvorsitzende von Heidelberg aktiv ist, erinnerte daran, dass es zurzeit in Deutschland rund zehn Millionen Menschen mit Behinderung, davon mehr als 7,5 Millionen Schwerbehinderte gibt und dass aber nur bei vier Prozent die Schwerbehinderung angeboren ist. Ebenso wies sie darauf hin, dass bei 85 Prozent der Betroffenen die Schwerbehinderung erst im Laufe des (Erwerbs-)Lebens entsteht. Anhand des Modells „Haus der Arbeitsfähigkeit“ zeigte sie auf, welche Faktoren Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit in den unterschiedlichen Lebensphasen haben. Angesichts längerer Arbeitskarrieren gelte es, älterwerdende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu binden. Sie sprach sich in diesem Zusammenhang und mit Blick auf die älterwerdenden Kunden für ausreichend qualifiziertes Personal im Einzel- und im Versandhandel aus. Ebenso brauche es „gesundheitsförderliches Führen“ und Ergonomie am Arbeitsplatz. Chancen der Digitalisierung sieht die Gewerkschafterin in EDV mit behinderungskompensierenden Programmen, an verbessertem Zugang zu Informationen und Lerninhalten und am potentiellen Zugang zu Arbeit aufgrund der Teilnahme an sozialen Netzwerken. Auch verlören Mobilitätsbarrieren durch Telearbeit und Homeoffice an Bedeutung. Andererseits bekämen die Beschäftigten die „digitalisierungsgetriebene Dynamik“ in der Arbeitswelt 4.0 im betrieblichen Alltag und beim Jobverlust zunehmend stärker zu spüren. Auch wies Susanne Wenz auf die Belastungen durch die permanente Erreichbarkeit der Beschäftigten aufgrund digitaler Vernetzung hin. Das muss minimiert werden“, forderte Wenz und zitierte aus den Verdi-Leitlinien für Gute Arbeit.
Dass Fortschritt im Behindertenrecht kein Selbstläufer sei, hob Professor Franz Josef Düwell eindringlich hervor. Dafür müsse man arbeiten. Düwell, ehemals Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht und heute Honorarprofessor der Universität Konstanz, informierte über die seit Januar 2017 geltende gesetzliche Stärkung der Schwerbehindertenvertretung im Zuge der ersten Stufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Danach können Schwerbehindertenvertrauenspersonen schon ab 100 schwerbehinderten Beschäftigten und Gleichgestellten und nicht wie vormals erst ab 200 Betroffenen im Betrieb freigestellt werden. Außerdem bekommt der erste Stellvertreter einen Anspruch auf Freistellung bei Schulungen, eine Forderung, für die lange gekämpft wurde. Und Kündigungen von schwerbehinderten Beschäftigten sind künftig unwirksam, wenn die Schwerbehindertenvertretung nicht beteiligt wurde. Zugleich bemängelte Professor Düwell, dass über diese Neuerungen nicht informiert werde. „Das BTHG ist seit dem 1. Januar in Kraft, aber keiner weiß es.“ Er betonte die bedeutende Stellung der Schwerbehindertenvertretung und bezeichnete sie als „Motor der Integration und Inklusion“. Und er stellte klar, dass nur eine informierte Schwerbehindertenvertretung Beistand leisten und auf Inklusion hinwirken könne. In diesem Zusammenhang verwies Franz Josef Düwell auch auf die ursprünglichen und vielfach kritisierten Bestrebungen des Gesetzgebers, in Sachen Schwerbehindertenvertretung untätig bleiben zu wollen. Erst die Hartnäckigkeit von VdK, Deutschem Gewerkschaftsbund und weiteren Organisationen einschließlich der Bundesbehindertenbeauftragten sowie die Postkarten- und Unterschriftenaktion der Betroffenen hätten ein Einlenken beim Gesetzgeber bewirkt.
Dr. Olaf Otto, Geschäftsführender Gesellschafter der Präventic GmbH und Facharzt für Arbeits- und Allgemeinmedizin, zeigte in seiner Präsentation, wie das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) für Beschäftigte, die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind, Schritt für Schritt durchzuführen ist. Er zeigte hier die Chancen für die Unternehmen auf wie beispielsweise Kostensenkung durch weniger Fehlzeiten und Planungssicherheit in den Abläufen, kam aber auch auf potentielle Hürden beim BEM zu sprechen wie mangelnde Information und Angst, ebenso überzogene Erwartungen. Dr. Otto sprach sich für die frühzeitige Erkennung von Rehabilitationsbedarf beispielsweise im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen aus. Solche Untersuchungen böten gute Möglichkeiten, um die gesundheitliche Situation des Betroffenen zu stärken. Dem Betriebsarzt komme hier eine große Bedeutung zu – auch bei der Klärung der Frage, ob die Arbeitsunfähigkeit arbeitsbedingt oder gar eine Berufskrankheit sei. Das BEM könne nur gelingen, wenn der Arbeitgeber dahinter stehe und dies unterstütze, ist Dr. Olaf Otto überzeugt. Zugleich bemängelte er, dass der Nutzen des BEM vielfach in den Betrieben nicht bekannt sei, seitens der Arbeitgeber zudem zu viel Aufwand befürchtet werde. Ebenso müssten die anderen betrieblichen Akteure beim BEM voll dahinterstehen und es unterstützen. Gerade die Schwerbehindertenvertretung spiele hier eine wichtige Rolle als Multiplikator. Denn durch das Betriebliche Eingliederungsmanagement könne es langfristig gute Erfolge für die Menschen in der Arbeit und zugleich im privaten Umfeld geben.
Über die einerseits sehr nachdenklich stimmende, zugleich aber auch kurzweilige und lustige Präsentation des Inklusionsaktivisten und Gründers der „Sozialhelden“ Raúl Krauthausen wird demnächst gesondert berichtet. Der studierte Kommunikationswirt zitierte darin unter anderem aus seiner veröffentlichten Biographie „Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Das Leben aus der Rollstuhlperspektive.“ Siehe auch unseren Veranstaltungsbericht unter www.vdk.de/bawue-marketing im Internet.
Auf viel Interesse stieß auch die begleitende VdK-Gesundheits- und Rehamesse, die ab 10 Uhr die Tore für alle Bürger geöffnet hatte. Die Ausstellung, die ebenso wie die zertifizierte Schulung bereits zum 10. Mal in Heilbronn durchgeführt wurde, konnte 2017 mit 55 Ausstellern aufwarten. Neben vielfältigen Informationen aus dem weiten Feld der beruflichen und der medizinischen Rehabilitation, der Patienten-, Gesundheits- und Wohnberatung, der seit Jahren stark erweiterten Arbeit des Sozialverbands VdK sowie der Selbsthilfearbeit gab es diesmal noch mehr Aussteller zu den Themenkomplexen rund um Pflege und Seniorenarbeit. Auch der Schwäbische Turnerbund, vertreten durch das Turngau Heilbronn durfte nicht fehlen. Beim Infostand des Sportvereins gab es auch die eine oder andere Frage zu den „Fünf Esslingern“. (Lesen Sie dazu auch den speziellen Bericht mit den Kursangeboten auf diesen Seiten.) Und während der Vormittagspause der Tagung war diesmal „Hallensport“ angesagt: Übungsleiterin Ingrid Herbst zeigte auf der Bühne einige gute Gymnastikübungen, die das Gros der 550 Behinderten- und Arbeitnehmervertreter, VdKler und Gäste gerne im Stehen und im Sitzen mitmachte. So kamen 2017 wirklich alle auf ihre Kosten und können sich auf den 4. Juli 2018 freuen. Dann wird es erneut eine VdK-Reha- und Gesundheitsmesse in der Harmonie Heilbronn und eine neue VdK-Landesschulung im Theodor-Heuss-Saal geben. (Weiterer Veranstaltungsbericht über die sehr beeindruckende Präsentation von Raúl Krauthausen folgt.
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